Der eiserne Vorhang hebt sich langsam nachdem der Dirigent bereits das Pult im Orchestergraben betreten hat. Der Blick auf einen mit weißem Marmor ausgekleideten Raum wird freigegeben, Eine weiße, nicht ganz korrekt bekleidete Madonna steht hinten links im Eck. Diese wenigen bühnenbildnerischen Elemente (Bühne und Kostüme: Angelika Höckner) bleiben uns den gesamten Abend über als verbindendes Element erhalten, wobei die Madonna im ersten Akt mit einem Kruzifix bestückt ist, im zweiten Akt mit einem Schwert und im dritten schließlich mit einem goldenen Herzen. Für die erste Szene darf natürlich eine Staffelei nicht fehlen, der Palazzo Farnese wird später im selben Rahmen durch Büromöbel und Laptops zur Geheimdienstzentrale ausgestattet. Was im ersten Moment nach einer weitgehend modernisierten naturalistischen Inszenierung klingt, ist aber weit mehr. So beginnt in Kornelia Repschlägers Regie das Stück mit einem jungen Mädchen, welches mit dem Rücken zum Publikum steht. Sie atmet laut und panisch, bevor sie die Bühne rennend verlässt und schließlich die ersten Takte von Puccinis Melodramma in drei Akten erklingen. Im weiteren Verlauf des Abends erzählt Repschläger werktreu die bekannte Geschichte, versetzt die Zeit der Handlung, wie man den Kostümen unschwer ansehen kann, dabei aber in die heutige Zeit. So schafft sie einen deutlichen Bezug zu aktuellen Ereignissen rund um Machtmissbrauch und zurzeit aktive Despoten jeglicher Couleur, die selbstverständlich auch die Kirchen in ihre Machenschaften mit einbeziehen. Im „Te Deum“ tritt der Chor grau gewandet mit von Strumpfmasken überzogenen Gesichtern und Zombie-haftem Habitus auf, was wiederum die neben der rein erzählerischen eine weitere Dimension zum Ausdruck bringt. Tosca erscheint im weißen Gewand und wird von diesen Gestalten nach Scarpias Phantasien beschmutzt und missbraucht. Zum Ende der Oper hin löst sich die Frage nach den seltsamen Erscheinungen endlich auf: Das von Ängsten geplagte Mädchen aus dem ersten Akt ist der Hirte (eigentlich ja ein Junge), der zu Beginn des dritten Akts seinen regulären Auftritt hat. Es handelt sich bei ihm letztendlich um ein Alter Ego von Floria Tosca, die selbst als Hirtenmädchen aufwuchs, bevor sie von Benediktinerinnen aufgenommen und zur Sängerin ausgebildet wurde. In dem Moment als Tosca laut Partitur im Finale schließlich von der Engelsburg springen sollte, wird sie in Repschlägers Produktion vom Hirtenmädchen erschossen und beide Körper fallen, durch diesen (lautlosen) Schuss erlöst, zu Boden. Ihr Albtraum und die Angstzustände enden hier. Da Kornelia Repschläger diesen Ansatz stringent das ganze Stück hindurch immer wieder, aber keinesfalls penetrant anklingen lässt, schafft sie neben der spannungsgeladenen und detailliert inszenierten äußeren Handlung einen psychologisch tiefergehenden mit der Handlung einhergehenden roten Faden zum Thema Angst. Sie entstaubt auf diese Wiese Puccinis Meisterwerk, aber entwürdigt es nicht. Das Flensburger Premierenpublikum nimmt diese für hiesige Verhältnisse sehr moderne Interpretation begeistert an und dankt allen Beteiligten schlußendlich mit minutenlangen stehenden Ovationen für den gelungenen Opernabend.
Cavaradossi und Angelotti vor dem Bildnis der Madonna in der Kirche San Andrea della Valle (c) A.T. Schäfer
Auch von musikalischer Seite gibt es nur Positives zu berichten und es kommt uns viel Schönes zu Ohren. Für die drei stimmgewichtigen Hauptpartien wurden Gäste engagiert. Shelley Jackson sang die Tosca zuvor schon an der Oper Malmö und ist auch in Flensburg stimmlich bestens aufgelegt. Ihr warmer und in keinem Moment angestrengt klingender Sopran erinnert mich ein wenig an Kiri Te Kanawa. Selbst in dramatischen Ausbrüchen neigt ihre Stimme nicht zu Schärfen und bei aller vokaler Schönheit vermag die junge Amerikanerin es stets, das Orchester zu überstrahlen und nicht dagegen anzusingen. Der italo-ecuadorianische Tenor David Esteban hat es sprachlich wohl etwas leichter, als die weibliche Titelheldin. Stimmlich wird er der Rolle des Mario Cavaradossi auf der kleinen Bühne rundum gerecht und kann sich auch gegen die starke Bühnenpräsenz der weiblichen Protagonistin gut behaupten. Sein Kostüm erinnert mehr an einen Anstreicher als an einen Kunstmaler. Als Bilderbuch-Bösewicht brilliert der bulgarische Bariton Krum Galabov. Seine rauchig-rauhe Stimme unterstreicht die Brutalität, die in der Rolle des Scarpia steckt. Darstellerisch nimmt man ihm den sadistischen und hinterlistigen Polizeichef in jedem Moment ab, wobei er immer eher nobler Intrigant als grobschlächtiger Schurke bleibt.
Voller Energie und mit stimmlicher Präsenz durchlebt Tosca (Shelley Jackson) ihren Albtraum im als Geheimdienstzentrale fungierenden Palazzo Farnese (c) A.T. Schäfer
Neben diesem perfekt harmonierenden Trio fallen die mit Ensemblemitgliedern besetzten Rollen nicht ab und perfektionieren somit den harmonischen Gesamteindruck. Timo Hannig gibt den Cesare Angelotti, Allround-Talent Kai-Moritz von Blanckenburg begeistert als Mesner. Dritan Angoni gestaltet den Spoletta und die beiden Mitglieder des Opernchores Karol Malinowski (Sciarrone) und Dmitri Metkin (Schließer) komplettieren das Ensemble. Glafira Kaplun verzaubert in der Rolle des Hirten mit engelsgleicher Stimme.
GMD Ingo Martin Stadtmüller versteht es von der ersten Minute an vorzüglich, das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester im Zaum zu halten und das kleine Auditorium des Flensburger Stadttheaters nicht mit purer Lautstärke zu überfrachten. Dabei gelingen ihm viele dramatische und auch wunderschöne, schwelgerische Momente ohne je ins Kitschige abzugleiten. Eine wichtige Rolle nehmen natürlich auch der Opern- und Extrachor des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters und die Mitglieder des Kinderchores der Lornsenschule Schleswig ein, die sich unter der Leitung des neuen Chordirektors Avishay Shalom gut disponiert in bester stimmlicher Verfassung präsentieren.
Diese Saisonpremiere ist ein Beweis für die künstlerische Schlagkraft dieser nördlichsten Bühne im deutschsprachigen Raum und belegt, dass das Leitungsteam die in Flensburg beheimatete Musiktheatersparte des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters mit durchdachten Konzepten und guter Sängerauswahl auf ein beachtliches Niveau gebracht hat. Unter den jubelnden Premierengästen fanden sich auch zahlreiche jüngere Menschen, darunter einige Kinder, die sich genau so für diesen Bühnenklassiker begeistern konnten, wie das ältere Stammpublikum.