Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

Film: TONSÜCHTIG

02.09.2020 | FILM/TV, KRITIKEN

Filmstart: 4. September 2020
TONSÜCHTIG
Österreich / 2020
Regie: Iva Švarcová / Malte Ludin
Dokumentation

Jedem Wiener Musikfreund sind die Wiener Symphoniker teuer. Es ist alles klar eingeteilt in dieser Stadt: Den Philharmonikern gehören der Musikverein, das Neujahrskonzert und die Salzburger Festspiele. Den Symphonikern gehören das Konzerthaus, Frühling in Wien und die Bregenzer Festspiele. Dass sie vielleicht manchmal Komplexe haben, die „Zweiten“ zu sein – das ist eines der wenigen Themen, das in der bemerkenswerten Dokumentation, die Iva Švarcová über dieses Orchester gedreht hat, nicht vorkommt.

Und noch eines – der Begriff „Wiener Symphoniker“ fällt erst nach etwa einer Dreiviertel Stunde. Bis dahin könnte eigentlich von jedem Orchester die Rede sein. Dann allerdings wird es schon „spezifisch“. Vor allem, wenn es um den „Wiener Klang“ geht, der so vorbildlich von einer „Multi-Kulti-Belegschaft“ gezaubert wird…

Dokumentationen zu erstellen, die lebendig sind und nicht trocken-belehrend, ist schwer. Zumal, wenn man sich konzeptionell entschließt, keinen verbindend-erklärenden Text aus dem Off zu senden. Wenn man nur Menschen sprechen lässt und Musik. Das dann zu einem wie gewachsenen Ganzen zusammen zu fügen, wo es die einzelnen Musikstücke noch schaffen, stimmungsmäßig wie „kommentierend“ zum Text eingesetzt zu werden – das ist schon ein kleines Kunststück. Da werden dann höchst lebendige eineinhalb Stunden daraus.

Das „Material“ des Films sind die Musiker selbst, einmal von den Hauptdirigenten abgesehen, die befragt werden – Philippe Jordan, damals (der Film muss 2018 entstanden sein) noch der amtierende Chefdirigent, und Andrés Orozco-Estrada, der lebhafte Kolumbianer, damals noch der designierte Nachfolger (mittlerweile ist Jordan in die Staatsoper weiter gewandert und Orozco-Estrada im Amt). Vor allem dürfen die Musiker erzählen, ganz schlicht von sich selbst – und da ergeben sich (obwohl im Vergleich zur Riesen-Mannschaft, die das Orchester bildet, nur ein knappes Dutzend zu Wort kommt) die interessantesten Geschichten. Es gibt einen amerikanischen Juden, in dessen Familie die Ablehnung von Deutschland und Österreich heftig war – und der in Wien seine musikalische Heimat gefunden hat. So wie der Oberösterreicher, den sein Gastwirt-Vater einmal in der Woche zwei Stunden lang zur Musikstunde nach Linz fuhr, weil er an das Talent des Sohnes glaubte. Damen aus dem Ostblock berichten, woher sie kommen und wie sie ihre Arbeit empfinden. Ob Streicher, ob Bläser, verschiedene Schicksale und doch die Gemeinsamkeit der Hingabe an die Musik.

Ein Musikerleben ist zu vielfältig, um hier mehr als Andeutungen zu geben, aber man erfährt von absoluter Leidenschaft für das gewählte Instrument (so dass Familienmitglieder sich vergleichsweise benachteiligt fühlen), man erfährt von beseligenden Momenten und von Ängsten, die so tief gehen können, dass sie zu Depressionen führen. Und doch – wenn man den richtigen Beruf ergriffen hat (und die Abgründe von Vorspiel-Runden durchlitten), dann wird man den Beruf selten als „Arbeit“ empfinden und oft als Erfüllung.

Man hat bei vielen Proben mitgefilmt, und allein die verschiedenen Dirigenten-Temperamente, die da in winzigen Ausschnitten am Pult herumtoben (oder auch nicht), machen klar, wie abwechslungsreich das Leben eines Musikers sein muss. Der Konzertmeister (hier ist es Anton Sorokow) berichtet mit einem Lächeln von der Verpflichtung, als Vermittler, aber auch als Pufferzone zwischen den Dirigenten und seinen Kollegen zu stehen.

Und am Ende erlebt man das Suchen und Finden eines neuen Konzertmeisters 2018, und es war dann eine Dame, die rothaarige Sophie Heinrich, die aus Berlin kam, sich fragte, warum sie sich die Tortur antut (schließlich hatte sie als Konzertmeisterin der Komischen Oper einen Superjob) und dennoch die neue Herausforderung suchte. Und schließlich das Probespiel (unendlich wichtig auch für die Kollegen, denn man arbeitet mit gewählten Menschen ja oft Jahrzehnte zusammen) für sich entschied. „Ich glaube, dass es dem Wiener Publikum gefällt, wenn da oben am Ersten Pult eine Frau sitzt“, sagt sie. „Die Wiener sind doch gar nicht so.“

Ja, und der Wiener Klang? Sinnlicher sei er als der deutsche, sagt Philippe Jordan, auch heller, und die Streicher hätten wohl auch etwas Süßliches. Und am schönsten sei es für einen Dirigenten, wenn „es“ auf einmal zu spielen beginne, die Musik wie von selbst fließt, man gar nichts mehr steuern muss, sondern schon bei den ersten Tönen spürt, das sei richtig, das fühlt sich gut an… Ein Erlebnis, das die Wiener Symphoniker dem Publikum in Wien und aller Welt oft genug vermittelt haben. Und „Tonsüchtig“ ist der Film für ihre Fans.

Renate Wagner

 

Diese Seite drucken