Filmstart: 28. Februar 2020
SORRY WE MISSED YOU
GB / 2019
Regie: Ken Loach
Mit: Kris Hitchen, Debbie Honeywood u.a.
Wenn ein Bote vor der Tür steht und ein Paket abliefert, kann er froh sein, wenn er ein Trinkgeld bekommt. Dass sich der Empfänger des Pakets (das hoffentlich rechtzeitig eintrifft, sonst beschwert man sich natürlich lautstark) auch nur eine Sekunde über die Situation dieses Mannes und seines Jobs den Kopf zerbricht, ist nicht anzunehmen.
Ken Loach, dessen Filme man kennt, tut es. In diesem Sinn ähnelt „Sorry We Missed You“ den meisten seiner Arbeiten: Weniger ein Film als eine Sozialstudie, kein Licht leuchtet in der Finsternis, als arte Doku auch zu brauchen. Man weiß es ja längst, was Ken Loach mit dem Kinobesucher macht: Er dreht ihnen angesichts von Alltagsschicksalen gleich nebenan das Herz im Leib um. Dass diese extreme Opfer des kapitalistischen Ausbeutungssystems sind und nicht aus der Falle des Prekariats herauskommen, nicht herauskommen können, wenn sie nicht in die Kriminalität abdriften wollen (was nicht in Frage kommt), macht alles noch schmerzlicher. Schlimm.
Hier hat Ricky Turner (Kris Hitchen) einen quasi „Selbständigen“-Job bei einer Auslieferungsfirma angenommen (er muss für den Lieferwagen, den er fährt, in Vorkasse treten!), ist voll für die Pakete und deren Lieferung verantwortlich, in eisenharte Arbeitsbedingungen eingespannt, nur um überhaupt Arbeit zu haben. Denn die liebenswerte Gattin Abbie (Debbie Honeywood) ist als Altenbetreuerin noch schlechter dran – wenig Geld, viel Verantwortung, viel Leid, dem sie begegnet und das auf ihre Stimmung drückt. (Da gibt es Szenen, wo Loach die Klaviatur des Elends auf und ab spielt…)
Der Alltag des Pakete-Auslieferns ist grauenhaft, aber wenn Ricky Turner Einspruch erhebt, sagt ihm sein Boss Gavin Mahoney (Ross Brewster) eiskalt und umißverständlich klar: er kenne die Regeln, der habe sich einverstanden erklärt, und wenn er es nicht machen wolle, macht es ein anderer… Dieser Mann, der die Paketboten organisiert, hat nur ein einziges Interesse – den Betrieb für seine Firma möglichst problemlos und möglichst billig aufrecht zu erhalten. Menschlichen Argumenten ist er nicht zugänglich – und er kennt sie alle… Der Arbeitnehmer will einen freien Tag? Der kostet ihn hundert Pfund, bar auf die Hand, als Ablöse…

Sorry We Missed You (Foto: NFP Marketing)
Es gibt kein Entkommen für Turner, denn wer ernährt die Kinder, wenn er keine Arbeit hat – vor allem einen trotzigen halbwüchsigen Sohn, Seb (Rhys Stone), der sieht, dass seine Schulkollegen in so viel besseren Verhältnissen leben und der seinen Eltern vorwirft (es ist herzzerreißend), dass sie nicht imstande sind, ein besseres Leben zu schaffen. Obwohl der Regisseur völlig klar macht, dass es wirklich nicht an ihnen liegt. (Diesen Sohn wird der Vater einmal auch von der Polizei abholen, und nur ein mitfühlender Polizist – offenbar gibt es das auch – ermöglicht, dass er heimgehen kann… “Wir stehlen nicht in dieser Familie!“ sagen die Eltern fassungslos.)
Ken Loach zeichnet als Thema mit geringen Variationen einen Film lang – eine Welt, in der man eigentlich nicht leben will. Aber für viele, die im System gefangen sind, gibt es keinen Ausweg. Natürlich besteht die Gefahr, dass man das soziale Elend gewaltig angeschmalzt serviert bekommt – und die Gefahr, dass man es eigentlich nicht sehen will. Zu den Filmen von Ken Loach muss man sich zwingen. Und fühlt sich nachher schlecht.
Vor allem, wenn Ricky am Ende, nachdem man ihn zusammen geschlagen und seine Pakete aus dem Van geraubt hat (er muss noch für verlorene Pässe Strafe zahlen, obwohl er das Verbrechensopfer ist!), sich wieder ans Steuer setzt, statt ins Spital zu gehen… weil das offenbar der einzige Weg ist, der ihm bleibt. Ein schwer auszuhaltendes Finale.
Gut, es ist verdammt dick aufs Kinobrot geschmiert. Aber man würde nicht wetten, dass es solche Schicksale nicht gibt. Und man bewundert Ken Loach, dass er nicht aufhört, das System anzuklagen.
Renate Wagner