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Film: SHOPLIFTERS

26.12.2018 | FILM/TV, KRITIKEN

Filmstart: 28. Dezember 2018
SHOPLIFTERS – FAMILIENBANDE
Manbiki kazoku / Japan / 2018
Regie: Hirokazu Koreeda
Mit: Lily Franky,
Miyu Sasaki, Kairi Jō, Lily Franky u.a.

Die „Goldene Palme“ der Filmfestspiele von Cannes, heuer an den japanischen Film „Shoplifters“ verliehen, geht im allgemeinen nicht an den Mainstream. Tatsächlich braucht man als Zuschauer ein „Arthaus“-Gen in sich, um solche Filme sehen zu wollen und am Ende noch zu lieben. Das sind Werke, die nichts Unterhaltendes an sich haben, nichts Spannendes, nichts im weitesten Sinn Erbauendes. Sondern die an einem Stück Lebenswirklichkeit entlangfahren und einzig daraus ihre Eigenleben und auch ihre Qualität gewinnen. Kurz gesagt: „Shoplifters“ ist nicht für jedermann.

Zumal uns das asiatische Kino normalerweise mit Opulenz verwöhnt, wobei „Japan“ für Samurais und Kimonos, Pavillons in vollkommen schönen Gärten und Teezeremonien steht. Nichts davon, wenn wir Osamu Shibata und Shota kennen lernen, die wir lange für Vater und Sohn halten. Zwei Geschöpfe der Unterschicht, die durch einen Supermarkt streifen und sich routiniert mit Handzeichen verständigen, einander die Mauer machen und schließlich mit unbezahlten Dingen von dannen ziehen. Ladendiebstahl aus Beruf? Eine kriminelle Unterwelt? Nein, schiere Notwendigkeit.

Wenn sie heimkommen, der hinkende Vater, der seine Stellung an der Baustelle verloren hat, dann sind da viele Menschen auf engstem Raum zusammen, eine scheinbar ganz normale Großfamilie, an der auffällt, wie ruhig und vor allem freundlich sie miteinander umgehen. Essen, trinken (übrigens auch „Red Bull“, was man als Österreicher wachen Auges wahrnimmt), reden. Im Amerika würden Menschen, die so aneinander gepresst sind, sich vermutlich anschreien und früher oder später totschlagen. Diese Familie lebt miteinander, wobei es offenbar die immer einbezogene alte Großmutter ist, die durch eine Rente ein fixes Einkommen hat.

Tatsächlich läuft die Alltagsbeobachtung von Regisseur Hirokazu Kore-eda (ein Mann mit großem Ruf in der Arthaus-Welt) gewissermaßen so beiläufig, dass man gar nicht genau weiß, wie die einzelnen Menschen hier miteinander verwandt sind. Später merkt man, dass es gewählte Bindungen sind, nicht nur solche, die aus Familienbeziehungen resultieren. Doch da ist Zusammengehörigkeit. Und darum geht es. Der Regisseur hat auch erklärt, dass das sein Thema war: Was macht eigentlich eine Familie aus?

Man sieht, dass sie ihr Leben fristen müssen, wie es kommt – ob die Mutter in der Hotelwäscherei bügelt, ob ein junges Mädchen im schäbigen Sexgewerbe vor Männern, die unsichtbar hinter einer Wand sitzen, masturbiert… in aller Selbstverständlichkeit. Beruf. So wie der Ladendiebstahl. Über die Runden kommen…

Aber als Vater und Sohn bei ihren Streifzügen durch die Stadt – es sind die schäbigen Randgebiete von Tokio – ein einsames kleines Mädchen sehen, das frierend hinter einem Fenster sitzt und offenbar niemanden hat, der sich um sie kümmert, nehmen sie die Kleine mit nach Hause. Und alle kümmern sich liebevoll über den Familienzugang, keine Diskussion über „noch ein Maul zu stopfen“, wie man es sich hierzulande vorstellen könnte. Ein Kind braucht einen Platz und bekommt ihn… Klein Yuri gehört zur Familie. Und wird dann nach und nach auch zum Stehlen ausgebildet. Der Film ist eine Sozialstudie, aber man merkt es kaum, weil einem diese Armut und deren Bewältigung wie selbstverständlich gezeigt und nicht anklagend unter die Nase gerieben wird.

Der Film läuft langsam, nichts in diesem Alltag wird dramatisiert. Man kämpft sich durch von Tag zu Tag. Bis die Behörden nach der verschwundenen Yuri suchen. Bis die Großmutter stirbt und das Familiengefüge, das nie auf legalen Verhältnissen basiert hat, zusammenbricht…

Man kann nicht sagen, dass der Film an Spannung zulegt, wenn die einzelnen Familienmitglieder nun Polizisten gegenüber sitzen, denen sie Rede und Antwort stehen müssen. Es werden, auch eher undramatisch, tatsächlich Verbrechen der Vergangenheit aufgedeckt, im vollen Wortsinn vergrabene Leichen. Es ist eine „Familie“ mit Geheimnissen… Hatte er kein schlechtes Gewissen, dass er seine Kinder zum Stehlen mitnahm? wird der Vater gefragt. Es gab nichts anderes, was ich ihnen hätte beibringen können…

Es ist kein Glück für Yuri, zu ihrer echten Mutter zurückzukommen, die das Gesicht voll Prügelspuren hat. Es ist kein Glück, als Shota bei einem Diebstahl davonläuft, über eine Mauer springt, sich das Bein bricht und im Jugendgefängnis landet. Eine Frau der Familie nimmt für das Verbrechen der Vergangenheit ihrerseits Gefängnis auf sich. Selten hat man einen Film gesehen, der solch gebündelte Tragödien liefert, ohne zu triefen… und ohne sofort lautstark die Gesellschaft anzuklagen (obwohl man verstehen könnte, wenn es geschähe).

Am Ende herrscht wieder Alltag. Ein kleines Mädchen im Hinterhof klettert still auf ein Mäuerchen, man weiß nicht, was man sieht und warum, nur, dass es so ist. Man hat eine Studie von Menschen in materieller Armut, gesehen, die filmisch nicht in vordergründigen Mitleidsbildern und schreiendem Elend ausgereizt wird, sondern tatsächlich den Eindruck eines fließenden Alltags bietet, der fraglos bewältigt werden muss. Und das geschieht, indem sie alle zusammen rücken.

Renate Wagner

 

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