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Film: PELIKANBLUT

11.10.2020 | FILM/TV, KRITIKEN

Filmstart: 16. Oktober 2020
PELIKANBLUT
Deutschland / 2019
Drehbuch und Regie: Katrin Gebbe
Mit: Nina Hoss, Katerina Lipovska, Murathan Muslu u.a.

Wiebke ist eine sympathische, ruhige Frau in mittleren Jahren. Sie leitet offenbar selbständig einen Reiterhof, der irgendwo an der polnischen Grenze zu liegen scheint (Näheres erfährt man nicht). Sie ist offensichtlich glücklich mit ihrer neunjährigen Adoptivtochter Nikolina. Wenn der Film nun damit beginnt, dass sie sich aus Bulgarien ein zweites kleines Mädchen, die fünfjährige Raya, holt, könnte man hoffen, vermuten, dass es sich um ein Fallbeispiel für gelungene Integration handelt – liebevolles Umfeld, Leben in der Natur, kein sozialer Streß,

Aber darauf will dieser Film von Regisseurin Katrin Gebbe, die auch selbst das Drehbuch geschrieben hat, absolut nicht hinaus. Obwohl – dass Raya, anfangs scheinbar fügsam, zunehmend schwierig wird, könnte man hinnehmen, vielleicht auch erklären. Aber der Fall zielt über übliche Probleme weit hinaus. Wiebke muss sich – wie der Titel sagt – wie eine Pelikanmutter in einer Weise aufopfern, um Raya nicht zu verlassen, die ans Übermenschliche reicht. Und, besonders traurig, sie muss die mögliche Rettung des Kindes mit ihrer eigenen Existenz bezahlen.

Es ist eine schaurige Geschichte, und so ist sie auch gemeint. Denn Raya erweist sich im Alltag zuhause und in der Schule, wo man sie bald weg haben will, als ein Bündel des Bösen, eine einzige Aggression gegenüber ihrer Umwelt, schließlich als regelrecht lebensgefährlich. Man glaubt dem Kind, wenn es droht: „Ich mach dich tot.“ Vom Teufel besessen, sagt man dann gern, und die Geschichte meint es auch so. Nach gängiger Psychologie ist das Trauma eines Kindes erklärbar, das tagelang neben der toten Prostituiertenmutter ausharrte, bevor man sie fand. Aber da kommen nun die Geister des Bösen dazu, und wo Psychiater nicht helfen, müssen es Medien und Zauberinnen sein… kurz, man ist aufgefordert, an die ganzen Exorizismus-Geschichten zu glauben (wozu man ja als nüchterner Durchschnittsmensch nicht eben neigt).

Quälend und mit vollen zwei Stunden auch sehr lang schnürt die Geschichte den Würgegalgen um den Hals der aufopfernden Mutter immer enger – von Nina Hoss, Deutschlands Paradeschauspielerin für problematische Charaktere, deshalb so interessant gestaltet, weil sie ja absolut nicht das gefühlvolle Muttertier ist. Befragt man sich selbst, was man in ihrer Situation tun würde, müssten viele wohl ehrlicherweise zugeben, dass man das Kind (Katerina Lipovska liefert eine erschreckende Leistung) vermutlich als hoffnungslosen Fall in der Psychiatrie abgegeben hätte.

Was die nie vordergründig ausgespielte, aber bis zur Besessenheit reichende (und solcherart fragwürdige) Mutterliebe von Wiebke betrifft, so zerstört sie nicht nur fast die andere Tochter (Adelia-Constance Giovanni Ocleppo), zerstört die Beziehung zu einem verständnisvollen Mann (Murathan Muslu), katapultiert sich selbst aus der Gesellschaft des kleinen Dorfes, dem sie offenbar angehört. Und wenn die Zauberin zu agieren beginnt, dann waltet der Exorzist-Horror…

Am Ende geht Wiebke, die hofft, Raya „befreit“ zu haben, mit den beiden Kindern ins Haus. Die Kamera fährt über die leere Koppel. Der leere Stall. Es gibt keinen Reiterhof mehr, niemand will mehr etwas mit ihr zu tun haben.. Im Wald hängt ein abgehackter Pferdekopf als Totem. Keine Frage, Raya hat ihrer aller Leben ruiniert.

Aber Raya hat angesichts des toten Pferdes über ihre tote Mutter geweint – etwas, das sie stets verdrängt hatte und das folglich (Küchenpsychologie) als das „Böse“ aus ihr herausgequollen ist. Ist sie (nach der Theorie Freuds) nun wirklich geheilt? Man möchte es bezweifeln. Mit tiefer Unzufriedenheit, die sich auf viele Bereiche erstreckt (inhaltlich, formal, ideologisch, denn die Sinnfrage des Ganzen ist nicht klar geworden), verlässt man das Kino…

Renate Wagner

 

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