Filmstart: 9. Juni 2023
NOSTALGIA
Italien / 2022
Drehbuch und Regie: Mario Martone
Mit: Pierfrancesco Favino, Tommaso Ragno, Aurora Quattrocchi u.a.
„Nostalgia“ klingt verlockender als das, was der Film von Regisseur und Drehbuchautor Mario Martone dann bietet. Wenn Felice, ein etwa 60jähriger Mann (Pierfrancesco Favino), in seine Heimatstadt Neapel zurückkehrt, die er als 15jähriger verlassen hat (verlassen musste, wie man später erfährt), dann ist das nicht das kulturelle, wunderschöne Neapel, das Touristen so entzückt. Nein, er kommt in die Hinterhöfe seiner Jugend, in das Viertel Sanità, das Außenstehende eher meiden – aber er will hier sein, um seine uralte Mutter (Aurora Quattrocchi) „noch einmal“ zu sehen. Das Entzücken der verwahrlosten, einsamen Greisin über den heimgekehrten Sohn und die liebevolle Art und Weise, wie er sich um sie kümmert, wärmen dann kurzfristig das Herz der Kinobesucher.
Aber schon aus Gesprächen mit Leuten, von denen sich ein paar Alte noch an ihn erinnern und von denen alle seine Mutter kennen, lassen jenes Unbehagen aufziehen, das hier die ganze Zeit waltet, das wie eine dunkle Wolke über dem Geschehen liegt. Kaum ist die Mutter tot und begraben, erfährt man exakt, worum es geht. Da ist noch etwas aufzuarbeiten aus der Kindheit, von einer tiefen Freundschaft zweier Jungen, die abrupt zerrissen ist.
Interessant und nicht überraschend ist die zentrale Rolle der Kirche, die nicht nur ein Glaubens-, sondern offenbar in erster Linie ein Informations-Pool für die dort Lebenden ist. Der Priester Luigi Rega (Francesco Di Leva) sagt Felice, was aus seinem Jugendfreund Oreste geworden ist – nämlich ein gefährlicher Mafia-Boß. Schließlich war es ein Mord, den Oreste einst begangen und den sein fassungsloser Freund und Blutsbruder Felice mit angesehen hat. Daraufhin hat Felices Onkel veranlasste, den Jungen ins Flugzeug zu setzen und zu Verwandten nach Beirut zu schicken. Seither hat Felice den arabischen Raum nicht mehr verlassen, lebt und arbeitet in Kairo, hat eine ägyptische Frau (er ruft sie ein paar Mal an, Sofia Essaïdi ist sehr schön), und ja, er ist so weit weg von der Heimat, dass er sogar zum Islam über getreten ist. Tatsächlich ist sogar sein Italienisch anfangs holprig.
Geh zurück, möchte man als Kinobesucher Felice zurufen, und schau Dich nicht um, aber er besteht darauf (Erinnerungsszenen flackern als Rückblende), Oreste zu sehen, der Priester vermittelt es, undurchsichtige Männer holen ihn ab, verbinden ihm die Augen, bringen ihn an einen unbekannten Ort.
Und da ist Oreste (Tommaso Ragno).ganz anders als die Klischees der eleganten alten Mafia-Bosse in luxuriöser Umgebung, wie wir sie nicht nur aus dem „Paten“ kennen. Ein alter, grauhaariger, vernachlässigter Mann, der dem Freund Vorhaltungen macht, dass er ihn damals „verlassen“ hat – und kein Wort, nie. Man spürt das Böse an ihm, man bekommt Angst, Felice konfrontiert ihn mit der Vergangenheit, und auch Oreste sagt ihm nur, er solle einfach gehen, weggehen, dorthin, von wo er gekommen ist. Er werde ihn nicht töten, sagt er noch…
Sobald es um diesen Teil der Handlung geht, hat man die Einsicht für Felices Handeln verloren. Mag sein, dass die Erinnerung über Jahrzehnte in ihm brennt, aber was kann er erreichen? Und hat man ihn nicht gewarnt, wie gefährlich dieser Mann ist? Nostalgie kann tödlich sein, die düstere Ballade, die in diesem Film gesungen wird, ist nur schmerzlich.
Italien war damit 2022 beim Festival von Cannes und hat „Nostalgia“ auch für den Auslands-„Oscar“ eingereicht. Hoch gehandelt und mit zweifellos hohem Anspruch, stark in der atmosphärischen Machart. Aber glücklich wird man mit dieser traurigen Geschichte nicht.
Renate Wagner