Filmstart: 26. September 2024
NEVER LET GO – LASS NIEMALS LOS
Never let go / USA / 2024
Regie: Alexandre Aja
Mit: Halle Berry, Percy Daggs IV, Anthony B. Jenkins u.a.
Mama ist leider gaga…
Wie oft noch muss man sich im Kino in apokalyptische Welten versetzen lassen? Hier befindet man sich inmitten fast zerstörter Natur (die höchst ästhetisch gestaltet und gefilmt ist, um die Wahrheit zu sagen). Eine Hütte in einem Wald, eine Mutter (PoC) und ihre zwei kleinen etwa zehnjährigen Söhne. Sie kann gar nicht genug tun, den Kindern einzuschärfen, dass „draußen“ das „Böse“ wohnt und sie sich ja nicht von ihr entfernen dürfen. Und tatsächlich hat sie die schrecklichsten Halluzinationen über eine alte Frau mit dreck- und blutverschmiertem Gesicht mit gespaltener Zunge, die sie bedroht…
Das ist die Voraussetzung des Films „Never let go“ von Horrorspezialist-Regisseur Alexandre Aja, der Grusel mit Metaphysik mischt, aber auch die Geschichte von Abhängigkeiten und familiärem Terror erzählt. Denn die Mutter liebt die Kinder zweifelsfrei von Herzen. Und dass sie sie mit Seilen an das Haus anbindet, ist vielleicht für manche ungesunde Mutter-Kind-Beziehung metaphorisch zu verstehen – dann können die Buben nie weit weg von ihr sein, sie hat sie immer unter Kontrolle und bildet sich dabei ein, dass sie sie nur schützen will. Auch, wenn sie ihnen bedrohliche schreckliche Geschichten erzählt und sie wie ein Mantra „nie loslassen!“ wiederholen lässt.
Eine Stunde lang erlebt man nur dieses Dreieck, wobei die Mutter (die ja doch ein bißchen gaga ist) weniger interessant erscheint als die Buben. Ihre Agenda ist klar: Mit allen Mitteln die Macht zu behalten. Die Frage ist, wie die beiden Kinder über kurz oder lang reagieren werden, ob und wann sie aufbegehren. Einstweilen hat die Mutter sie noch fest am terroristischen Seil, wenn sie in den Wald gehen und aus der Natur ihre nicht eben appetitlichen Mahlzeiten aus Raupen, Maden und dergleichen heimbringen…
Nach einer Stunde gibt es dann die Katstrophe, die wohl auch abgebrühte Zuschauer erschreckt, weil sie das Ausmaß des zerstörerischen mütterlichen Fanatismus zeigt. Und dann sind die beiden Buben allein – der eine, der immer schon kritisch war, und der andere, dem die Mutter offenbar ihre Wahnvorstellungen, Obsessionen und, wie sich zeigt, auch ihre Gewaltbereitschaft eingepflanzt hat. Da kann die Begegnung mit der realen Welt nur bösartig ausfallen, und am Ende fragt man sich bange (denn man hat ehrliches Mitleid mit diesen Kindern), wie es für sie weiter gehen kann, wenn man sie in die Zivilisation bringt…
Halle Berry war einst eine unvergeßliche Schönheit des Kinos, die Jahre nach 2000 waren ihre große Zeit, wo sie einen „Oscar“ bekam (was für Farbige damals durchaus noch eine Ausnahme darstellte), als sie für James Bond so sexy aus den Wellen entstieg wie einst nur Ursula Andress, als sie die Traumerscheinung einer „Catwoman“ war. Dann allerdings kamen zwar durchaus noch Filme, aber wenige, die Aufsehen machten – nur ihre Nebenrolle als Storm in den „X-Men“ hat sie in vielen Fortsetzungen behalten.
Nun, an der Schwelle ihres 60ers hat sie offenbar die Möglichkeit einer „Charakterrolle“ gesehen, wo ihr Aussehen (das immer noch sehr ansehnlich ist) keine Rolle spielt, wohl aber die Ausdruckskraft, mit der sie diese besessene Mutter spielt, Und das gelingt ihr sehr gut, wobei sich die beiden Kinder auf Augenhöhe mit ihr befinden – Percy Daggs IV als Nolan, der kritische Kopf, immer Skepsis in den klugen Augen, und Anthony B. Jenkins als Samuel mit wunderbar irrlichternden Blicken auf die feindliche Welt.
Kurz, das Schaurige an dem Film besteht nicht nur in den grottenhässlichen Visionen der Mutter und der immer beengenderen, bedrückenderen, aussichtsloseren Geschichte, sondern auch darin, was Menschen im Namen von Liebe und Beschützen einander antun können. Das ist interessant – im üblichen Sinn unterhaltend ist es nicht.
Renate Wagner