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Film: MAY – DECEMBER

Schatten der Vergangenheit

30.05.2024 | FILM/TV, KRITIKEN

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Filmstart: 30. Mai 2024 
MAY – DECEMBER
USA  /  2023 
Regie: Todd Haynes
Mit: Julianne Moore, Natalie Portman, Charles Melton u.a.

Schatten der Vergangenheit

Mai-Dezember-Beziehungen bedeuten im allgemeinen eine junge Frau und ein alter Mann. So in der Preisklasse Richard Lugner, worüber mancher den Kopf schütteln mag. Aber es ist als gesellschaftliches Faktum gewissermaßen akzeptiert. Umgekehrt gibt es weniger Verständnis – und schon gar nicht, wenn eine 36jährige Frau, verheiratet, Mutter einer Tochter, es im Hinterzimmer des Ladens mit der 13Jährigen Hilfskraft, einem koranischen Buben, treibt. Den Shitstorm in einer amerikanischen Kleinstadt kann man sich vorstellen, auch wenn es damals noch keine Sozialen Medien gab…

Der Skandal liegt 26 Jahre zurück, mittlerweile schreibt man 2015, die Frau hat den Jungen von einst geheiratet, sie haben zwei Kinder, aber die Erinnerung an diese exzessive Geschichte von einst, die in vielen Zeitungsartikeln und Fernsehdokumentationen behandelt wurde, ist noch nicht gewichen.

Offenbar stellt sie nach wie vor ein Faszinosum dar, zum Beispiel für eine Schauspielerin, die darin eine Rolle ohnegleichen sieht. Und sich der originalen Sünderin von einst höflich mit der Bitte nähert, zu Recherchezwecken Fragen stellen zu dürfen…

Das ist die Voraussetzung eines wahren Psychothrillers von Regisseur Todd Haynes, der von zwei großartigen, scheinbar immer lächelnden, scheinbar immer gut erzogenen Damen so durchgezogen wird, dass die Gänsehaut bei dieser Vergangenheitsbefragung immer präsent ist. Natalie Portmann, vorsichtig und doch etwas tückisch, hintergründig wirkend, Julianne Moore, äußerlich strahlend und doch ganz Zurückhaltung, beide das Zögern hinter exquisiter Höflichkeit verbergend – ein Schauspielerinnen-Duell von Klasse.

Was will Gracie Atherton-Yoo verbergen, beschönigen oder einfach nicht sagen, was hat Elizabeth Berry, die berühmte Fernsehschauspielerin, eigentlich wirklich vor`? Dass nichts ganz so ist, wie es scheint, wird dem Zuschauer bald klar, aber was dahinter steckt, das… ja, das muss man sehen.

Wieder einmal erweist es sich, dass vielleicht häßliche Würmer hervorkriechen, wenn man die Büchse der Pandora, sprich, der Vergangenheit, öffnet. Dabei wird von Grace versucht, dem Gast ganz die heile Welt der Familie vorzuspielen – Kinder, die jetzt schon flügge sind und auf die Universität gehen werden, jeder liebt jeden, oder? Oder stellt sich heraus, dass der koreanische Ehemann Jo das Gefühl hat, dass die ganze Sache nie wirklich ausdiskutiert wurde? Dass der Sohn so bald wie möglich weg von zuhause will, weil ihn die Atmosphäre zu sehr bedrückt? Und hat Grace je akzeptiert, dass es ein Verbrechen war, mit einem 13jährigen im Hinterzimmer der Tierhandlung  zu schlafen (wofür sie eine zeitlang auch ins Gefängnis ging – und ihr erstes Kind von Jo zur Welt brachte!)…

Ein arabisches Sprichwort besagt: Kaum ist Gras über eine Sache gewachsen, kommt ein Kamel und frißt es ab. Das ist in diesem Fall die Schauspielerin, die gierig nach jedem Detail forscht. Aber Grace nimmt den Fehdehandschuh auf. Wer am Ende siegt in diesem Duell? Was die beiden Darstellerinnen betrifft: unentschieden. Die quälen einander auf Augenhöhe.

Renate Wagner

 

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