Filmstart: 4. Oktober 2024
DIE BOLOGNA-ENTFÜHRUNG –
GERAUBT IM NAMEN DES PAPSTES
Rapito / Italien / 2023
Drehbuch und Regie: Marco Bellocchio
Mit: Enea Sala, Leonardo Maltese, Paolo Pierobon u,a,
Die Schrecken des Fanatismus
Ja, die Geschichte gab es wirklich. Im Jahr 1858 war der Papst mächtig genug, um im Namen des Glaubens ein jüdisches Kind entführen zu lassen. Ein Dienstmädchen hatte es als Baby „getauft“, und als der Kirche das zu Ohren kam, holte man den kleinen Edgardo Mortara einfach ab, um ihn in Rom in ein Internat des Vatikans zu stecken und einen guten Christen aus ihm zu machen. Das heißt, man riß ihn mit Gewalt aus seiner jüdischen Familie und unterzog ihn einer so nachdrücklichen Gehirnwäsche – dass aus dem Judenjungen ein überzeugter Priester wurde, der bis zu seinem Lebensende nicht in seinem katholischen Glauben wankend wurde…
Eine wahre Geschichte, wie gesagt, die von Regisseur Marco Bellocchio einerseits mit allem Pomp eines historischen Films in Szene gesetzt wurde, aber andererseits die Problematik verblendeten religiösen Fanatismus exakt heraus arbeitet. Dabei zeichnet der mittlerweile 85jährige Regisseur – und das ist eine von vielen Stärken des Films – die Sachlage keinesfalls demagogisch einseitig. So, wie die Eltern des kleinen Edgardo (Fausto Russo Alesi und Barbara Ronchi mit absolut herausragenden Leistungen) überzeugte Juden sind, die mit aller Leidenschaft um ihr Kind kämpfen, so üben die Herren auf katholischer Seite zwar ihre Macht aus (die zu dieser Zeit überbordend war), aber der „Kindsraub“ entsprach ihrer Überzeugung, dass die Seele eines Getauften nicht preisgegeben werden darf. Die Herren des Vatikan sind kühl, gemessen, tun ihre Pflicht.
Eine andere Meisterleistung des Films kommt von Paolo Pierobon als Papst Pius IX., der den hübschen kleinen Judenjungen aufrichtig (und ohne Hintergedanken, wie man sie heutzutage gleich vermuten würde) ins Herz schließt.
Marco Bellocchio, der auch das Drehbuch schrieb, widmet sich allen Handlungssträngen gleichwertig , schneidet gelegentlich eindrucksvoll jüdische und katholische Rituale gegen einander, hier feiert die Familie den Sabbath, dort zelebriert der Papst die Messe…
Natürlich geht das Schicksal des kleinen Jungen am meisten unter die Haut, der hilflos zurecht gebogen wird, sich anpasst, aber – wie in einer Szene beim Wiedersehen mit der Mutter klar wird – nichts anderes will als wieder nach Hause. Das liebe, kluge Gesicht von Enea Sala macht klar (und das gerade, wenn es absichtlich bewegungslos scheint), welche Tragödie sich da abspielt. Doch man weiß, wie es ausgegangen ist – am Ende hat das neue Leben das alte überdeckt, als junger, überzeugter Priester (Leonardo Maltese, dem Kinderdarsteller erstaunlich ähnlich) kehrt er an das Sterbebett der Mutter einmal in die Familie zurück – und will sie taufen. Sie wendet sich ab: Als Jüdin ist sie geboren, als Jüdin will sie sterben.
So sehr die Juden, in einer erschreckenden Szene wird es klar, vor dem übermächtigen Papst im Staub kriechen müssen, ganz machtlos sind sie nicht. Vater Momolo Mortara kann die jüdischen Gemeinden von Bologna und Rom mobilisieren, die durchaus nicht immer zu feinen Mitteln greifen und die Weltpresse auf den Fall hetzen. Aber am Ende ist es der politische Umschwung durch Garibaldi, der im Zuge der Vereinigung Italiens auch die Macht des Papstes brechen will.
Und dieser Papst kämpft, stellt sich allen Widerständen entgegen, ist entschlossen, seine Macht zu erhalten. Am Ende ist es aber nur sein tragischer Sieg, aus einem Judenjungen einen überzeugten Katholiken gemacht zu haben. Das ist eine Geschichte, der man zweieinviertel Stunden mit ebenso viel Anteilnahme an den Schicksalen wie Faszination angesichts der gezeigten Konstellationen folgt.
Renate Wagner