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Film: ASK DR. RUTH

04.10.2020 | FILM/TV, KRITIKEN

Filmstart: 9. Oktober 2020
ASK DR. RUTH
USA / 2019
Regie: Ryan White
Mit Dr. Ruth Westheimer, ihrer Familie, ihren Freunden

Wenn ein Film über Dr. Ruth Westheimer angekündigt wird, noch dazu unter dem flotten Titel „Ask Dr. Ruth“, dann könnte die Gefahr bestehen, dass es sich um eine Satire handelt, bei der die berühmteste Sexberaterin der USA einfach vorgeführt wird. Schließlich hat man sie nicht nur verdammt, sondern auch verlacht, weil sie in einem puritanischen Land den Sex fernsehfähig gemacht und mit einer bis dahin (es waren die achtziger Jahre) noch nie gewagten Offenheit darüber gesprochen hat.

Aber nein, die Dokumentation „Ask Dr. Ruth“ von Ryan White, der sie besucht, mit Respekt behandelt und die ganze urige, großartige Persönlichkeit auf die Leinwand gebracht ist, ist eine Verbeugung vor einer Frau, ihrer Leistung und vor allem ihrem Schicksal. Das muss uns übrigens am meisten berühren – denn es ist das einer deutschen Jüdin, die überlebt und ihre persönliche Tragödie ohne Sentimentalität und Anklage verarbeitet hat. Schlechtwegs bewundernswert.

Die Rückblicke auf ihre Kindheit und Jugend werden teils mit Fotos, Dokumentarfilmen und mit einer Art von Zeichentrickanimation erzählt, die Menschen ganz echt erscheinen lässt – aber es wird nicht gespielt, es wird gezeigt. Die glückliche Jugend der Karola Siegel, die 1928 in der Nähe von Frankfurt geboren wurde, Kind orthodoxer, intellektueller Juden, die das größte Opfer für die Tochter brachten: Sie trennten sich von ihr, schickten die Zehnjährige mit einem Kindertransport in die Schweiz (was eine kostspielige Angelegenheit war) und retteten ihr so das Leben. Anfangs kamen noch liebevolle Briefe der Eltern, dann nicht mehr. Wie Ruth Westheimer das schildert, das schnürt einem das Herz ab – später konnte sie in jüdischen Aufzeichnungen herausbekommen, dass ihr Vater in Auschwitz ermordet wurde, während ihre Mutter einfach als „verschollen“ gilt…

Das Leben in der Schweiz war kein Vergnügen: Denn die jüdischen Kinder wurden in dem dortigen Heim durchaus als Menschen zweiter Ordnung betrachtet, die die Schweizer Kinder zu betreuen und alle Hausarbeit zu übernehmen hatten. Höherer Schulbesuch war nicht vorgesehen – aber Ruth, der vom Vater die jüdische Überzeugung eingebläut worden war, dass Bildung unerlässlich ist, lernte heimlich aus den Schulbüchern eines befreundeten Jungen. Der übrigens, als uralter Mann, noch in New York in ihrer Umgebung lebt…

Nach dem Krieg schickten die Schweizer die unerwünschten Juden nach Palästina, wo sie ihren Namen ändern musste („Karola“ klang zu Deutsch), im Kibbuz lebte und Ruth (sie erzählt es ohne die geringste Dramatik) als Scharfschützin bei den israelischen Untergrundkämpfern war. Sie wurde übrigens bei einer Gelegenheit schwer verwundet.

Mit ihrem ersten Mann ging sie nach Paris, er studierte an der Sorbonne, sie auch, als er heimkehren wollte, ließ sie sich scheiden. In Paris heiratete sie Gatten Nr. 2, hatte mit ihm die Tochter Miriam und erfüllte sich ihren Lebenswunsch, nach Amerika zu gehen. Sie wohnt übrigens immer noch – auch als Millionärin – in Washington Heights, einem Stadtteil von Manhattan, weil sie hier in die jüdische Umgebung eingebettet ist, in der sie sich geborgen fühlt.

Sie hat in New York erst als Hausmädchen gearbeitet und las Romane, um schneller Englisch zu lernen. Ehemann Nr. 3, Fred Westheimer, angesehen in der jüdischen Gemeinde, war dann der Richtige, der Mann, mit dem sie jahrzehntelang bis zu seinem Tod zusammen war und einen Sohn hatte.

Diese Lebensgeschichte nimmt – neben jenen Szenen, die der Regisseur aus dem Alltag der alten Frau mit dem dicken deutschen Akzent gedreht hat – den Hauptteil des Films ein. Der „Dr. Ruth“-Abschnitt ist dann mit zahlreichen Fernsehbildern zu dokumentieren. Denn Ruth wollte immer lernen, studieren, und sie setzte das mit Entschiedenheit durch. Sie wurde mit 46 Jahren (!) promovierte Psychiaterin, arbeitete in der Familienberatung, und als einmal an der Uni angefragt wurde, ob eine der Damen vielleicht für ein Radio-Interview über sexuelle Fragen reden wollte (es gab kein Honorar), sagten alle Kolleginnen nein. Ruth ging hin – und damit begann eine der erstaunlichsten Medien-Karrieren.

Sie sprach über Sex, total unverblümt, nannte Geschlechtsteile beim Namen, erklärte Sexvollzug, beantwortete alle Fragen, die man ihr stellte. Schlimmer noch, sie setzte sich für Abtreibung und Homosexualität ein, und damit trat sie in den USA geradezu Lawinen los. Sie kam vom Radio ins Fernsehen, nicht nur als Talk-Show-Gast, sondern mit eigenen Beratungssendungen (und alles, was sie sagte, tat sie auf ihre unverblümte Art und basierend auf gesundem Menschenverstand), sie schrieb Bücher – und sie ist, heute über 90, noch immer aktiv…

Keine Lachnummer, eine bewundernswerte Frau, deren ungekünstelte Selbstverständlichkeit geradezu von der Leinwand springt – und großer Bewunderung wert ist. Eine „Holocaust-Waise“, die sich ein Leben ohnegleichen geschaffen hat, mit Mut, Energie und Verstand.

Renate Wagner

 

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