FESTSPIELHAUS ST. PÖLTEN/ Rachid Ouramdane: „Corps extrêmes“ am 16.6.2023
Was Akrobatik, Artistik und Extremsport mit den Ausführenden selbst machen kann, führt uns der interdisziplinär arbeitende Choreograf Rachid Ouramdane in der Österreichischen Erstaufführung seines Stückes „Corps extrêmes“ in einer mit in der Natur aufgenommenen Videosequenzen und Erzählungen einiger PerformerInnen angereicherten Choreografie eindrucksvoll vor Augen. Jedoch nicht nur visuell, denn was seine poetische Komposition in den ZuschauerInnen auslöst, ist für diese Art von Bühnenkunst ungewöhnlich berührend.
„Sind im Garten“ nennt das Festspielhaus St. Pölten seine inzwischen zur Tradition gewordene sommerliche Saison-Abschluss-Feier auf dem Freigelände vor dem Haus. Bereits am Nachmittag beginnt das gut besuchte Straßenfest mit Kulinarik, Akrobatik, Chorgesang, Konserven-Musik und „bewegter Einführung“ im Freien. Und einer Ansprache der seit einem Jahr amtierenden künstlerischen Leiterin Bettina Masuch.
Rachid Ouramdane Corps extrêmes © Pascale Cholette
Die leere Bühne im Großen Saal wird hinten von einer riesigen Kletterwand begrenzt. Eine Video-Projektion (Video: Jean-Camille Goimard) darauf zeigt den Highline-Weltrekordhalter Nathan Paulin in seinem Element. In felsiger Landschaft über einen tiefen Abgrund gespannt ist seine Slackline, auf der er balanciert. Dazu wird seine Erzählung eingespielt, in der er von seinen Gefühlen beim Ausüben dieses gefährlichen Sports berichtet. Von höchster Aufmerksamkeit, von der Verwandlung negativer Gedanken in positive, von der Beherrschung der Höhenangst, dem fester im Leben stehen, dem Wind als Freund und Feind. Die E-Gitarren- und E-Piano-Musik von Jean-Baptiste Julien schafft abstrahierende Distanziertheit.
Aus diesen beeindruckenden Aufnahmen heraus schwebt Paulin von rechts auf der hoch oben über die Bühne gespannten Slackline ins Bühnengeschehen. „Ich fühle mich sehr gut auf dem Band. Manchmal weine ich.“ „Es geht darum, Grenzen zu versetzen, die noch niemand kennt.“ Was er spürt, ist Freiheit. Die neun anderen PerformerInnen, Artisten, Akrobaten, Kletterer, verteilen sich im Seitenlicht, das die vielen Griffe und Stellflächen an der Wand sichtbar macht, an dieser. Sie bauen wandelnde Türme, drei Menschen hoch. Die beiden oberen umarmen sich, setzen einen an der Wand ab und nehmen einen anderen mit.
Rachid Ouramdane Corps extrêmes © Pascale Cholette
Die Bewegungen sind trotz der großen Kraftanstrengungen fließend, langsam, vorsichtig. In ihrer Leichtigkeit, Fürsorglichkeit und Wachsamkeit liegt eine überraschende Poesie. Paulin schaut, oben auf seinem Band sitzend, wie ein wohlmeinender, gütiger Gott auf das Geschehen. Sie werden geworfen, schweben, fliegen, tragen und fangen auf und werden getragen und gefangen. Sie können sich fallen lassen. Sie vertrauen einander.
Eine Artistin, von drei anderen in die Höhe gehoben, streckt die Hand aus nach dem Gottgleichen über ihr auf der Slackline. Das Streben nach Höherem, die ständige Suche nach Möglichkeiten, die eigenen Grenzen zu dehnen. Was Gefahren birgt, mit denen sie sich bewusst konfrontieren. Eine Kletterin, allein auf der Bühne, berichtet von einem Unfall, ihrer Angst und Unsicherheit. In der Wand ist sie hochkonzentriert, kontrolliert, im Moment. Es hilft ihr, schwierige Dinge im Leben zu bewältigen. Sie spricht vom Denaturalisieren des Menschen durch Verbote, zu klettern und zu rennen.
Rachid Ouramdane Corps extrêmes © Pascale Cholette
Ein Video, das sie in einer natürlichen Felswand zeigt, wird auf sie, die live an der Kletterwand der Bühne hängt, projiziert. Der Zoom verändert die Größenverhältnisse zwischen der Gefilmten und der live Kletternden. Wie die Bedeutung, die wir den Aspekten unseres Lebens beimessen. Sie fällt im Video, hängt an der Bühnenwand. Die anderen bauen eine schräge Menschenkette in der Bühnenwand, reichen sie von Mensch zu Mensch nach unten. Ein so wunderschönes, berührendes Bild.
Sie springen und werden geworfen, fliegen und werden gefangen. Mit unglaublicher Zärtlichkeit werden sie dem sicheren Boden wieder übergeben. Surreal erscheinen manche Bewegungssequenzen, wenn sie mit schrägem Körper auf den Händen ihrer KollegInnen gehen oder auf den ausgestreckten Armen der Liegenden wandeln. Paulin lässt sich von seinem Band herabgleiten in die Arme der Schützenden und Stützenden unten. Im roten Licht trägt er, die anderen gingen bereits ab, die Kletterin von der Bühne.
Rachid Ouramdane Corps extrêmes © Pascale Cholette
„Corps extrêmes“ entwirft mit Kraft, Präzision, Ruhe und Zärtlichkeit eine Utopie vom Verschmelzen mit seiner menschlichen und natürlichen Umwelt und von der ständigen Kommunikation mit dieser. Das Stück erzählt von der Zerbrechlichkeit des Menschen und des Augenblicks. Und von Solidarität und Empathie. Die poetische Kraft dieser magischen Akrobatik-Choreografie ist überwältigend. Die Assoziation von Traum-Inhalten bindet Bühne und Unbewusstes der Zuschauenden. Schwerelos und frei. Mit warmem Herzen, voller Hoffnung, ermutigt, verzaubert und beglückt verlässt man das Festspielhaus. Um vielleicht noch ein wenig Zeit „im Garten“ zu verbringen.
Rachid Ouramdane mit „Corps extrêmes“ am 16.06.2023 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann