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Europakonzert der Berliner Philharmoniker triumphiert über Corona

„Musik als Lebensmittel“

02.05.2020 | Konzert/Liederabende

Foto: Monika Rittershaus

Europakonzert der Berliner Philharmoniker triumphiert über Corona, 01. Mai 2020

„Musik als Lebensmittel“

Der schöne Monat Mai sollte nicht nur in Deutschland eigentlich ganz anders beginnen – auch für die Berliner Philharmoniker und ihren Chef Kirill Petrenko. Seit 1991 feiert das Weltklasseorchester genau an diesem Tag seinen Geburtstag und stets an einem historisch bedeutsamen Ort. Sei es in Sälen, Kirchen und Museen oder unter freiem Himmel wie 2017 in Europas damaliger Kulturhauptstadt Paphos auf Zypern.
Nun beim 30. Europakonzert sollte Tel Aviv das Ziel sein und sich außerdem eine Tournee anschließen. Doch auch bei diesem Kultur-Event machte Corona einen Strich durch die Rechnung. Also Kirill (statt Kevin) – allein zu Haus?
Keineswegs, und es werden auch keine der edlen Konserven gestreamt, die in der Digital Concert Hall 30 Tage lang bis vor kurzem gratis geboten wurden. Stattdessen trotzen in der leeren Philharmonie nun 15 Musikschaffende inklusive der Sopranistin Christiane Karg und Kirill Petrenko dieser Pandemie.
Zuvor wurden die zurzeit erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Sie alle, auch Petrenko, wurden zweimal negativ auf Corona getestet. Nun sitzen sie zwei Meter voneinander entfernt. Die Bläser, im Hintergrund postiert, halten sogar fünf Meter Abstand.

Der Wunsch, dennoch mit dabei zu sein, war bei den meisten der 128 Philharmoniker enorm groß. „Fünf Wochen haben wir für eine Lösung gekämpft, um das Konzert nicht absagen zu müssen“, erklärt Solo-Cellist Olaf Maninger vom Orchestervorstand. Klar, dass sich die Musiker nach der langen Zwangspause regelrecht um den Auftritt gerissen haben. Deshalb musste teilweise ausgelost werden, wer teilnehmen darf.“

Kultur ist halt keine Nebensache, sondern „ein Lebensmittel“, wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer kurzen Eingangsrede formuliert hatte. Alle Philharmoniker/innen wollten endlich mal nicht nur daheim üben. Sie haben auch mit deutlich erkennbarem Eifer ein total verändertes Programm für nur 13 Instrumentalisten/innen einstudiert.

Ursprünglich hatten sie fünf Mahler-Lieder, seine Symphonie Nr. 4 sowie ein Violinkonzert von Max Bruch mit den dazugehörigen Solisten (Elisabeth Kulman, Mezzo, und Amihai Grosz, Viola) im Reisegepäck. Das angepasste Programm, das heute Abend noch einmal um 19.00 Uhr auf rbb Kultur und gratis in der Digital Concert Hall zu sehen und zu hören ist, umfasst folgende Werke:

Arvo Pärt Fratres, Fassung für Streichorchester und Schlagzeug
György Ligeti Ramifications
Samuel Barber Adagio for Strings
Gustav Mahler Symphonie Nr. 4, jedoch bearbeitet für Kammerensemble von Erwin Stein.

Die anfänglichen drei Stücken passen durchaus zu der vielerorts durch Corona noch immer verdüsterten Stimmung, während die eher beschwingte, teils fröhlich wirkende kammermusikalische Fassung von Mahlers Vierter Raum für vorsichtigen Optimismus öffnet. Auf alle Fälle sorgt die bekannt großartige Akustik der Berliner Philharmonie trotz dieser Spar-Besetzung für einen erstaunlich satten Klang.

In über 80 Länder wurde dieses andersartige Europakonzert ausgestrahlt und wird vermutlich vielen – gerade wegen der Reduzierung aufs Wesentliche – lange in Erinnerung bleiben. Zu verdanken ist das neben dem engagierten und feinfühligen Dirigat von Kirill Petrenko insbesondere den intensiv spielenden Mitwirkenden. Sie alle vertreten sozusagen ihre nicht anwesenden Kolleginnen und Kollegen, sind deswegen auch weit öfter als sonst quasi als Solisten tätig.

Im Stream – und das ist sein Vorteil – lässt sich genau erkennen, wie sie alle mit höchster Energie und Perfektion arbeiten, mit Herz und Hand und Hingabe. Eine Ausnahmeleistung selbst für langjährige Profis, die aber auch die volle Konzentration der Zuschauenden und Zuhörenden einfordert. Nicht wie sonst sich bei vollen Klängen mal entspannt zurücklehnen – auch die daheim sollten auf dem Sprung sein.

Unvergessliche Eindrücke entstehen, für mich von ähnlicher Sogwirkung wie bei der am Karfreitag aus der Leipziger Thomaskirche in alle Welt ausgestrahlten Schlicht-Variante von Bachs Johannes-Passion. Der Freitag 2020 scheint zum Glückstag zu werden, auch der am 1. Mai in Berlin.

Und besser als mit Arvo Pärts „Fratres“ kann ein solches Konzert in dieser vielfach von Trauer und diversen Ängsten geprägten Situation gar nicht beginnen. Mit diesem mystischen Schweben, unterbrochen von wiederkehrendem Schlagzeugeinsatz, der mahnt, dass alle gefühlte Sicherheit bedroht ist. Eine Musik, die bewusst zurückgeht zur Gregorianik und in noch tiefere Schichten. Klänge der Trost- und Gottsuche, für viele „bigger than life“.

Nach „Ramifications“, auf Deutsch Verästelung, einem flatterhaft unruhigen Kurzstück von György Ligeti, das die Berliner Philharmoniker 1969 uraufgeführten hatten, folgt mit Samuel Barbers „Adagio for Strings“ eines der bekanntesten Trauerweisen überhaupt.

Nach der Ermordung von John F. Kennedy (1963) und nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 wurde dieses innige Stück in den USA gespielt und ist seitdem nicht nur dort öfter zu hören. Arvo Pärts Tiefe erreicht dieses Werk nicht, schwebt aber – jetzt den Corona-Toten gewidmet – von den Streichern tonschön gestaltet durch die leere Philharmonie.


Foto: Monika Rittershaus

Doch nach der Umbaupause, in der alle – außer den damit Beschäftigten – den Saal verlassen müssen, ist mit Mahlers Vierter in kammermusikalischer Fassung wieder mehr Zuversicht angesagt. Kirill Petrenko, zuvor stets sehr ernst, hat nun oft ein verschmitztes Lächeln im Gesicht und legt sich mit den Seinen voll ins Zeug.

Das wirkt wie ein Aufatmen, wie ein erster Sonnenstrahl nach all’ dem vielfach zu spürendem Trübsinn und all den Sorgen der vergangenen Wochen. Glück hatte man außerdem, denn diese reduzierte Mahler-Version von Erwin Stein gibt es seit einigen Jahren, und die ursprünglich eingeladene Sopranistin Christiane Karg bleibt uns auch erhalten.

Gleiches gilt für die unveränderte Benennung der einzelnen Sätze. Die propagieren zwar sämtlich Ruhe und Behaglichkeit, doch daran halten sich Petrenko und seine Mitwirkenden eher nicht. Jetzt wird temperamentvoll musiziert, passend zur belebenden Mai-Sonne.

Dass aber Mahlers Vierte keine nur heitere Humoreske ist, zeigt sich sehr bald. Hinter aller Munterkeit lauert die Gefahr. Selbst der Bi-Ba-Butzemann, dessen Melodie sich durch das Werk zieht, ist nicht nur scheinbar ein lustiger oder grotesker Clown. Spuk und Gefahr werden nur übertüncht – auch das passt gut zur momentanen Situation.

Auf alle Fälle sind nun, wie anfangs erwähnt, die Musiker als zumeist Einzel-Veranwortliche besonders gefordert. Daher ist es enorm spannend, sie genau zu beobachten. Extremsportler der Musik, die auch im Ausland gefragt sind, zeigen sich hier hochkonzentriert bei der Arbeit, so Daishin Kashimoto als Erster Konzertmeister.

Ludwig Quant als die Nr. 1 am Cello, hat über das Entstehen großer Musik auf der Bühne nachgedacht und schreibt: „indem man sich ihr hingibt, anstatt sie sich untertan zu machen.“ Das gilt sichtlich auch für die anderen in dieser auf wenige Musiker/innen reduzierten Darbietung.

Den Flötisten Emmanuel Pahud sehe ich zumeist nur von der Seite, Albrecht Mayer erfreulicherweise von vorne, zwei Weltstars, deren stupende Leistung sich erst im Nahblick offenbart und höchste Wertschätzung verdient. Wie munter wippt Wenzel Fuchs (Klarinette) mit dem ganzen Oberkörper, während seine Finger über die Klappen huschen, und Kotowa Machida entgeht sicherlich nicht das geringste Detail.

Oft werfen sie sich die Töne ganz zielsicher zu, sie alle können sich aufeinander verlassen. So deutlich habe ich das selbst im Block A sitzend und mit Fernglas noch nie sehen und bewundern können. Das Harmonium als Orgelersatz spielt Hendrik Heilmann von der Akademie der Künste, um nur einige zu nennen.

Am Abend musste ich mir unbedingt dieses Ausnahme-Konzert erneut abrufen, um noch mehr als bisher von Mahlers Polyphonie zu entdecken und wahrzunehmen, wie sich die Musiklinien zwischen den einzelnen Künstlern und Künstlerinnen entwickeln. Soviel von meiner immer noch knappen Zeit hat diese Ausnahmeleistung verdient. Sie wird wohl nicht nur mir unvergesslich bleiben.

Und das betrifft auch die Bösartigkeit und Boshaftigkeit in dieser Symphonie, die mir jetzt stärker als früher auffällt. Hinter der oft wohlig heiter wirkenden Oberfläche versteckt sich – trotz des ergreifenden Adagios, bei dem hier oft zwei und zwei wundervoll kommunizieren – so manche Falle. Das zeigt vor allem der 4. Satz, dessen Titel „sehr behaglich“ eine Irreführung sondergleichen darstellt, insbesondere das Lied „Das himmlische Leben“.

Christiane Karg singt es bestens, auch mit lebhafter Mimik und blitzenden Augen, doch trotz ihrer intensiven Mundbewegungen bleibt der Text weitgehend unverständlich. Fast besser so, denn wie sich bei diesem Song aus Des Knaben Wunderhorn die damaligen Kinder den Genuss der himmlischen Freuden vorstellten, ist Sarkasmus pur oder auch wahre Menschenkenntnis. Die Kindlein tanzen und springen, um dann zu singen:

„Wir führen ein geduldig’s
Unschuldig’s, geduldig’s
Ein liebliches Lämmlein zu Tod!
Sankt Lucas den Ochsen tät schlachten
Ohn’ einig’s Bedenken und Trachten!…“

Zeigen diese Verse, wie wir vielleicht in der Mehrzahl wirklich sind? Oder werden wir stattdessen die positiven Nebeneffekte der Corona-Krise, wie Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme, bewahren?

Hoffen wir also, dass wir in absehbarer Zeit das Lebensmittel Kultur wieder live in Konzertsälen, Opernhäusern und Theatern genießen und die Berliner Philharmoniker Ihr Europakonzert am 1. Mai 2021 in Barcelona im Gotteshaus „Sagrada Familia“ erklingen lassen können, dem noch immer unvollendeten, mehr als hundertjährigen Meisterwerk von Antoni Gaudí.


Sagrada Familia (Gewölbe) in Barcelona. Foto: Ursula Wiegand

Ursula Wiegand

 

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