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ETIENNE DUPUIS: Für mich ist der psychologische Bogen einer Rolle wichtig!

04.11.2021 | Sänger

Etienne Dupuis: Für mich ist der psychologische Bogen einer Rolle wichtig!

Interview mit Renate Publig / Oktober 2021

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Etienne Dupuis. Foto: Agentur/ Bettina Stöß

2021 ist das Jahr von Etienne Dupuis an der Wiener Staatsoper: Im April feierte der in Montreal / Kanada geborene Bariton sein Debüt als Valentin in Charles Gounods Oper „Faust“. Im September erlebten wir ihn in der Titelrolle von Gioacchino Rossinis „Il barbiere di Siviglia, Ende Oktober kehrte er als Valentin zurück. Und im Januar 2022 singt er an der Seite seiner Frau Nicole Car in Giacomo Puccinis „La Bohème“ den Marcello. Dupuis schloss sein Gesangsstudium an der McGill University sowie als Mitglied von L’Atelier Lyrique de l’Opéra de Montréal ab.

Herr Dupuis, willkommen zurück in Wien! Im September sahen wir Sie in der Neuproduktion von Gioacchino Rossinis „Il barbiere di Siviglia“. Herbert Fritsch bietet dabei eine bunte Inszenierung gänzlich ohne Requisiten, dafür mit umso mehr Action auf der Bühne. Diese Produktion wirkt insgesamt wie eine Mischung aus Stand-up-Comedy und Commedia dell’Arte?

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Dupuis als „Barbiere“ in Wien. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Die Commedia dell’Arte ist im 16. Jahrhundert entstanden, geboren aus der Notwendigkeit, einen Ausweg aus der Ernsthaftigkeit der Kunst zu finden. Das Publikum wollte für ein paar Stunden unterhalten werden. Hier setzt Herbert Fritsch an: Bei der Allgegenwärtigkeit von Politik könnte man auf der Bühne ständig politische Anspielungen bringen. Fritsch stellte sich bewusst dagegen und brach mit dieser Inszenierung aus dieser Welt aus, schuf ein eigenes kleines Universum, in dem alle ihren Spaß haben dürfen. Er riss die „vierte Wand“ in Richtung Publikum nieder, damit wir mit den Zuhörer*innen direkt kommunizieren und sie zum Lachen bringen können.

Anders als die Inszenierung von Gounods „Faust“, in der wir Sie ebenfalls erlebten!

Frank Castorf, der Mentor von Herbert Fritsch bevorzugt es, ständig politische Statements und kritische Bezüge einzubauen. In der Inszenierung von „Faust“ ist der Algerien-Krieg thematisiert, die konstante Gegenwart von Werbung, TV, Zeitungen und sozialen Medien.

Zurück zu „Il barbiere“: Diese Produktion erfordert neben Gesangstechnik und Schauspielkunst körperliche Fitness, wobei alles mühelos wirken soll. Ist neben den gesangstechnischen Qualifikationen die physische Fitness mittlerweile eine der Grundvoraussetzungen für Sänger*innen?

Allerdings! Diese Partie habe ich oft gesungen, in diese Rolle hat man, egal, in welcher Produktion, ein enormes Bewegungspensum. Früher war ich am nächsten Tag wieder fit, doch nun schmerzten die Beine. Singen könnte ich diese Partie in alle Ewigkeit. Aber spielen? Es ist wirklich anstrengend! (lacht) Essentiell ist vor allem die psychische Fitness. Man muss überzeugt sein, eine herausfordernde Regieanweisung zu schaffen!

Auf YouTube ist ein Video der „Don Carlo“-Produktion aus Paris von 2019 zu sehen, Ihre intensive Interpretation von Posas Tod. Sie schaffen diese kräfteraubende Arie auf berührende Weise … am Boden robbend.

Eine feine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Krzysztof Warlikowski: Seine ursprüngliche Idee, in dieser Szene am Boden zu kriechen, ging nicht auf. Also richtete ich mich etwas auf den Ellbogen auf, das verlängerte die Atemsäule, ich hatte wieder Spannkraft, konnte den Dirigenten sehen – perfekt.

… es wirkte realistischer … der sterbende Posa würde versuchen, sich aufzubäumen …

Das Gegenteil zu zeigen ist stets am effektvollsten. Um Trauer darzustellen, ist es eindrucksvoller, Tränen zurückzuhalten, als zu weinen. Oder einen Betrunkenen zu spielen – ständig zu torkeln und zu lallen ist eine Karikatur. Stattdessen ständig zu wiederholen, dass man nicht betrunken ist und übertrieben gerade zu stehen, um dann aus dem Gleichgewicht zu geraten, das ist viel stärker. Dieses Aufbäumen Posas selbst im Angesicht des Todes unterstreicht seine Stärke. Wobei generell der vierte und fünfte Akt von Don Carlo für mich eine der genialsten Kompositionen darstellt. Dieser kompositorische Spannungsbogen! Zuerst Filippos Bass-Arie, dann das Bassduett mit dem Großinquisitor, danach das Quartett – ohne Tenor! – darauf die Szene von Posas Tod, die Arie der Elisabetta, und endlich dieses dreiteilige Duett zwischen Tenor und Sopran. Unglaublich.

Außerdem zählt Don Carlo – neben u. a. Don Giovanni und Evgenij Onegin – zu den psychologisch tiefgründigeren Opern Ihres Repertoires. Durch die Veränderung der Interpretation von lediglich einer der Figuren kreiert man einen komplett neuen Plot.

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Eugen Onegin. Foto: Agentur/ Bettina Stöß

Genau dem Ansatz ging Ivo van Hove nach, er skizzierte Giovanni als Soziopathen, der einzig seine Befindlichkeit in den Fokus rückt, ohne Verständnis für die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen. Die Bühne war komplett in Grau gehalten, die Kostüme waren schwarz, und erst nach Giovannis Tod kamen die Farben zurück. Filme wie Schindlers Liste oder Citizen Cane bedienen sich dieser Technik. Eine unglaublich starke Inszenierung! Sie kam jedoch nicht bei allen im Publikum an … In Diskussionen versuche ich, einzulenken – vielleicht gibt es einen Grund für eine ungewöhnliche Inszenierung?

Und Regisseur*innen, die bloß unreflektiert gegen den Strich bürsten, „because I can” …?

Wenn es nur um den Powertrip geht, kann nichts Kunstvolles entstehen. Es evoziert keine Gefühle, keine Kommunikation. Regisseure, die so vorgehen, zerbrechen die Verbindung zwischen Publikum und Bühne. Doch ein stimmiges Gesamtkonzept regt es zum Nachdenken an. Unsere Produktion von „Barbiere“ – wir haben keinerlei Bühnenbild, keine Requisiten – also müssen wir alles darstellen. Das ist genial, man bleibt fokussiert! Keine Ablenkung, nur die Musik, die Geschichte.

Mögen Sie konträren Sichtweisen? Vor kurzem sangen Sie eine Produktion von “Le Nozze di Figaro” in München, inszeniert von Christof Loy, mit einer ungewöhnlichen Darstellung des Grafen Almaviva.

Wenn es Sinn ergibt, breche ich gerne aus dem Konventionellen aus. Christof Loy hat einen von Schwäche gezeichneten Grafen kreiert. Das Konzept fand ich schlüssig, viele Menschen überspielen mit ihrer Machtdemonstration in Wahrheit ihre Schwächen. Zudem durfte ich meine eigenen Mittel wählen, um die Schwäche des Grafen darzustellen. Da bin ich in meinem Element: Nicht einstudierten Bewegungen abzuspulen, sondern ein Gefühl, eine Haltung auf meine Weise darzustellen. Mit eingespielten Partnern zu improvisieren und im Augenblick Neues entstehen zu lassen, ist wundervoll.

Als Bariton stellt man oft ambivalente Partien dar, Figuren, die vielfältige Deutungen zulassen. Umgekehrt ist es keine geringe Herausforderung, Komödie wie den „Barbier“ überzeugend zu spielen. Welche Rollen liegen Ihnen Sie besonders?

Mir geht es weniger um den Charakter meiner Rollen. Für mich ist der psychologische Bogen, die Entwicklung einer Figur entscheidend. Wenn ich mit einer Figur am Ende der Oper exakt dort stehe, wo ich am Anfang war, ist es wenig spannend.
Posa beispielsweise opfert sich für sein Land. Dabei appelliert er an die menschliche Seite des Königs und ist bewegt, als er kurz dessen verletzliche Seite zu Augen bekommt. Diese Dimensionen darzustellen, macht eine Figur sehr gehaltvoll. Rigoletto liebt seine Tochter über alles und verabscheut Politik. Er ist eine traurige Figur mit tragischem Ende. Er ist geistreich – sonst wäre er nicht Hofnarr! Sein Geist lässt ihn vieles um ihn herum wahrnehmen, was andere nicht sehen, weil sie nur vor dem Grafen zu Kreuze kriechen. Das macht ihn zynisch. Oder Onegin – der zu Beginn meint, alles gesehen zu haben, bis er am Ende erkennt, dass er rein gar nichts verstanden hat. Solche Partien faszinieren mich.

Viele Aufführungen in den letzten 18 Monaten wurden gestrichen, eine Stimme muss jedoch fit bleiben. Wie schwierig ist es, sich ohne Projekte zum Trainieren zu motivieren?

Eine riesige Herausforderung. Man bleibt leichter fokussiert, wenn man auf ein Ziel hinarbeitet. Was es zusätzlich erschwert: Wir bereiten uns auf eine Produktion vor – die dann wieder und wieder verschoben wird, bis sie unter Umständen komplett abgesagt wird. Die Vorbereitung war also umsonst. Je öfter das passiert, umso mehr verliert man den Glauben daran, dass irgendwann wieder Aufführungen gezeigt werden. Meine Frau Nicole Car ist ebenfalls Opernsängerin, es gab Momente, in denen wir uns gefragt haben, ob wir jemals wieder singen werden. Jeder Funken Hoffnung wurde sofort wieder weggespült.

Natürlich hängt vieles von der persönlichen Einstellung ab. Wir haben eine Familie, ein Kind, einen Hund, es geht uns gut. Andere Menschen hingegen leiden vielleicht an Einsamkeit. Oder umgekehrt, sie müssen eine große Familie erhalten und erleben dadurch enorme Existenzängste.
Andererseits war das Ausruhen Gold für die Stimme. Ruhe ist essentiell, um gesund zu bleiben. Und ich hatte Glück, ich erhielt das Angebot aus München, den Almaviva zu spielen, mit meiner Frau gaben wir ein paar Konzerte, und ich nahm „Werther“ in der Bariton-Version auf.

Hat sich das Publikum an die Streamingangebote gewöhnt, oder kommt es wieder in die Vorstellungen?

Ich bin ein positiver Mensch. Wir erleben oft Entwicklungen, die von einem Extrem ins andere pendeln. In der Musik überschwemmen stets neue Technologien den Markt! Kinos mussten ebenfalls die Bedrohung durch die diversen Streaming-Plattformen hinnehmen. Wie praktisch, man kann jederzeit unterbrechen, hat keine nervenden Nachbarn. Aber einen Film im Kino zu sehen, mit Riesenleinwand und Dolby Surround Anlage ist ein viel unmittelbareres Erlebnis! Das gilt ebenso für die Oper. Alles passiert im Moment, nichts kann wiederholt werden, dadurch wird das Spiel der Darsteller*innen plastischer – das packt das Publikum. Abgesehen vom Live-Klang, mit dem keine Anlage der Welt mithalten kann!

Einen positiven Effekt von Live-Streams sehe ich: Viele Menschen äußern sich abfällig über Oper, ohne je eine gesehen zu haben. Weil es cool ist, darüber zu lästern. Streaming bietet die Möglichkeit, in diese Welt hineinzuschnuppern. Das kann bewirken, dass Menschen sich in die Oper wagen – und dann von den Sitzen gefegt werden. Weil sie feststellen, dass das Streamingerlebnis weder akustisch noch emotional an eine Live-Vorstellung heranreicht.

Vielen Dank für das Gespräch und auf ein baldiges Wiedersehen auf der Bühne der Wiener Staatsoper!

 

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