ESSEN / Philharmonie: ORESTE von Georg Friedrich HÄNDEL – konzertant
13.6. 2021 (Werner Häußner)
Mit diesem Deal hat es der König etwas zu bunt getrieben: Freiheit gegen Sex. Jetzt hat Toante (Goethe-Leser kennen ihn als Thoas) in Georg Friedrich Händels Oper „Oreste“ auch seine Untertanen gegen sich. Der Gewaltherrscher verliert – im Original schicklich hinter der Szene – sein Leben. Das Volk und die Liebenden sind befreit, Oreste schließt seine Gattin Ermione in die Arme, die Seelen „genießen ihre Ruhe“, wie es im Schlusschor heißt. Der Tod des Bösewichts statt einer wundersamen Wendung, kein „Deus ex machina“ und kein „lieto fine“: Was damals höchst ungewöhnlich war, wirkt heute glaubwürdig.
Das ist ein Grund, warum Händels Libretto zu seiner Oper „Oreste“ als besonders gelungen gilt. Keine unnötigen Verwicklungen, kein genüssliches Hinauszögern des Finales um delikat angerichteter Arien willen. Daher ist auch die Länge für heutiges Sitzfleisch erträglich; bei der – allerdings gekürzten – konzertanten Aufführung in der Philharmonie Essen kam man mit knapp zwei Stunden ohne Pause gut zurecht.
Betrüblich also, dass Aufführungen des „Oreste“ sehr selten sind. Der Grund dafür dürfte sein, dass die Musik nicht „original“ für das Libretto aus unbekannter Hand komponiert wurde. Händel war gezwungen, Anno 1734 nicht nur das Auslaufen seines Pachtvertrags für das Haymarket Theatre hinzunehmen, sondern auch die Vermietung an die konkurrierende „Opera of the Nobility“ unter Führung nobler Finanziers wie des Prince of Wales. Seine berühmten Sänger sprangen ebenfalls ab. So musste er ein junges, dennoch erstklassiges Ensemble aufbauen und im neu erbauten Theater am Covent Garden seine Saison organisieren. Das hatte auch Vorteile: Die Bühnenmaschinerie war neu und der szenische Aufwand konnte mit Ballett und Pantomimen auf hohen Anspruch getrieben werden.
Für „Oreste“ plünderte Händel sein Opernschaffen aus den vergangenen 27 Jahren, stellte einen Strauß der schönsten Arien zusammen und versah sie zum Teil mit neuem Text. Ein „Pasticcio“ also, wie es im 18 Jahrhundert üblich war, von der späteren Rezeption und auch der Musikwissenschaft im Zeichen eines Denkens in „Genie“-Kategorien jedoch lange nicht beachtet wurde. Erst 1988 zeigten die Händelfestspiele Halle das Werk wieder, die Aufführungen seither lassen sich an den Händen abzählen.
Die konzertante Aufführung in der Essener Philharmonie präsentiert also eine Sammlung von ariosen Edelsteinen aus Opern, die heute ebenso selten zu erleben sind wie „Oreste“. Und sie veranstaltet ein üppiges Sängerfest. Mit Franco Fagioli verkörpert einer der führenden Countertenöre die Titelrolle, wechselhaft in der Qualität der Tonbildung, aber unschlagbar virtuos, wenn es um Sprünge, endlose Ketten von Koloraturen und eine geschmeidige Gesangslinie geht. Die Gewissensnöte des Orest gestaltet er schon im eröffnenden Rezitativ („Pensieri …“) mit ausdrucksvoller allmählicher Intensivierung des Tons. Und auch wenn die Furien nicht nur das Herz, sondern auch die Intonation zu zerfleischen drohen: Mit seiner Seemannsarie zeigt Fagioli gewandt und temperamentvoll, dass ihn die Wogen der Koloraturen nicht hinwegspülen können.
Ihm zur Seite steht die Ermione von Julia Lezhneva. Ihr Sopran ist reifer und runder geworden, die Mittellage mit satter Brillanz erfüllt. Innige Klage und rachgierige Wut erfasst sie mit souveränen musikalischen Gestaltungsmitteln; auch wenn gerade in den zum Schrillen neigenden Höhen die Emission des Tons nicht immer kontrolliert wirkt. Das innig bewegte Duett mit Oreste wird zum expressiven Höhepunkt des Abends.
Die Schwester Orestes, Iphigenie, steht anders als etwa bei Gluck nicht im Vordergrund. Aber Siobhan Stagg vermeidet erfolgreich den Eindruck bloß gepflegten Singens und adelt ihren lyrischen Auftritt mit beherrscht zärtlichen Tönen. Mit dem jugendlich-frischen Timbre ihres Soprans kann sie auch beredt schildern, wie ein Tigerin ihre Jungen in Gefahr schützen würde. Margherita Sala überzeugt als Filotete – der verliebte Feldherr des Toante – mit der flexiblen, weichen Wärme ihres Mezzosoprans, der weder Druck noch Schärfe kennt. Der Tenor Krystian Adam ist der rhetorischen Intensität wie den leichtfüßigen Verzierungen seiner Rolle gewachsen; Biagio Pizzuti muss seinen klar geformten Bass in den Dienst des übergriffigen Toante stellen.
Maxim Emelyanychev führt als Dirigent ein exaltiertes Tänzchen auf, hopst von der Bank des Cembalos, reckt sich hoch, schüttelt seine Mähne und gestikuliert ausladend. Das Orchester „Il Pomo d’oro“ lässt sich davon nicht beeindrucken und spielt keinen Deut energischer oder pointierter als gewohnt. Die Musiker zeigen: Händel muss seiner Konkurrenz in London auch mit hervorragenden Instrumentalisten Paroli geboten haben, denn die scharf geschnittene Phrasierung, das kostbare Legato, die raschen Tempo- und Rhythmuswechsel fordern reaktionsschnelle, sichere Musiker – genau das also, was das Goldäpfelchen-Orchester für diese springlebendige Händel-Aufführung mitbringt.