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ESSEN/Aalto Theater: „KAIN UND ABEL“ oder „DER ERSTE MORD“ (Alessandro Scarlatti)
„Ist die Existenz des Bösen im Menschen verankert?“
Premiere am 25.1.2020 – Karl Masek
1698 gab es per Erlass ein Opernverbot, ausgesprochen von Papst Innozenz XII. Der Vatikan hatte Ende des17,Jhs die Oper als den „größten Sündenpfuhl“ ausgemacht. Weniger groß dürfte zu etwa gleicher Zeit das „Verlustieren von Priestern mit Kastraten“ als Sündenpfuhl eingeschätzt worden sein. Das galt als peccato nobile, als „edle Sünde“ (!) Dias Opernverbot wurde dann auch von Papst-Nachfolgern aufrecht erhalten.
Doch man war auch damals schon „kreativ“, und als Hintertürchen hat Scarlatti Oratorientexte bestellt. Die also titulierten, von ihm vertonten, Oratorien wurden dann eben auf der Bühne aufgeführt….
„Der erste Mord der Menschheitsgeschichte, doch wie wir wissen, bei weitem nicht der letzte. Jedenfalls nach biblischer Überlieferung stammen alle Menschen von einem Mörder ab: Kain, dem ersten Menschen, der auf der Erde geboren wurde…Die Geschichte der Genesis wirft seither Fragen auf, welche die Menschheit seit jeher beschäftigen. Warum geht es mir nicht so gut wie den anderen? Warum werden andere scheinbar grundlos bevorzugt? Ist die Existenz des Bösen im Menschen fest verankert?“, so die Dramaturgie des Aalto Theaters.
Diesen ewigen Fragen spürt auch Regisseur Dietrich W. Hilsdorf in seiner 20. Inszenierung am Aalto Theater in Essen nach. Und zieht gemeinsam mit dem Bühnenbildner Dieter Richter und dem Dramaturgen Christian Schröder einen eindrucksvollen Bogen vom Gilgamesch-Epos über biblische und andere Überlieferungen, die katholisch-barocken Sichtweisen des Librettisten Pietro Ottoboni bis hin zu Fragen der Selbsterkenntnis des Existentialisten Jean-Paul Sartre am Beispiel seines Theaterstücks „Geschlossene Gesellschaft“.
Der Vorhang ist noch geschlossen. Auch das Orchester, die Essener Philharmoniker, ist noch unsichtbar. Rätselhafte Klänge, allerdings sehr rasch als Popmusik der 60er, 70er-Jahre identifizierbar, hüllen das Auditorium ein. Bei genauem Hinhören ein „Aha-Erlebnis“. Stevie Wonder’s Nummer: „The first Garden“.
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Auf der Bühne ist ein barocker, opulenter Palastraum. Ein monumentales Rundfenster, aus dem Gott nur ein einziges Mal einen flüchtigen Blick nach draußen (in den Himmel?) wirft. Dieses Rundfenster ist nur über eine Leiter erreichbar. Ein Kamin, aus dem der Teufel ein Kreuz hervor holt und an die Frontwand nageln wird. Blickfang ist ein feierlich gedeckter Tisch, an dem sich die vier Menschen (Adam, Eva, Kain und Abel) in familiengerechter Anordnung versammelt haben. Wenn man Schriften heranzieht, die den Sündenfall Adams und Evas als Desaster für die Menschheit bezeichnen, an dessen Suppe wir heute noch löffeln, dann wird die Sache mit dem gedeckten Tisch sofort plausibel. Alle vier essen Suppe… Die „Lebenssuppe“, und wir sind auch noch bei einer Metapher des Thomas Bernhard! Verantwortlich für eine fast schon verloren geglaubte Bühnenbildästhetik: Dieter Richter.
Die einzigen beiden Wesenheiten, die sie bisher kennengelernt hatten (Gott und der Teufel) sitzen an der Seite. Der Teufel liest gelangweilt Zeitung (etwa gar den Osservatore Romano?), Gott ist geschlagene 45 Minuten sozusagen in schweigender Erwartung, bis er erstmals Wort und Inititiative ergreift. Von beiden verlangt Hilsdorf starke Bühnenpräsenz, welche eindrucksvoll schon im stummen Spiel eingelöst wird (Gott: Countertenor Xavier Sabata, Teufel: Bass Baurzhan Anderzhanov).
Adam und Eva, aus dem Paradies (The first Garden) vertrieben, beklagen den Sündenfall. Zwei Lamenti, die augenblicklich ans Herz rühren. Alessandro Scarlatti, der extreme Emotionalität strömen lässt, ganz ohne kompositorischen Formalismus. Menschliche Herzenstöne in jedem Moment. Dmitry Ivanchey (russischer Tenor) und Tamara Banješević (Sopranistin mit serbischen Wurzeln), beide Mitglieder aus dem Ensemble, in ihren Rollen mit ausgesprochen schönen Stimmen, grandiosem Ausdruckspotenzial und überzeugender „heutiger“ Körpersprache.
Im Fortgang des Geschehens schließlich: Ein Gott, der eher Droh- als Frohbotschaften absondert, der Teufel, der sich als der geriert, der den Menschen Wissen vom Baum der Erkenntnis gebracht hat. Abel, der gottesfürchtige „Gute“, der Gott mit seinen Opfern versöhnen will und wunschgemäße Reue- und Demutshaltung einnimmt, indem er sich als Zweitgeborener aufdringlich vordrängt. Kain, der sich (noch dazu als Erstgeborener) von den Eltern und von Gott zurückgesetzt fühlt, was in tötungsbereiter Eifersucht und mörderischen Hass gipfelt. Der rächende Gott gibt dem Brudermörder zwar das Kainsmal, das ihn vor der Verfolgung anderer Menschen bewahren soll, „schenkt“ ihm aber das Leben, denn bei seinem Tod wäre die Strafe geringer, denn die Qualen wären kürzer. Schließlich Eva, die Gramgebeugte, die beide Söhne verloren hat. Auch hier die zeitlosen Muttergefühle. „Auch wenn mein Kind ein Mörder ist, ich bin immer noch seine Mutter!“ Was der große Sohn Siziliens, Alessandro Scarlatti (* 1660 in Palermo, gest. 1725 in Neapel) herzzerreißend in Musik gießt…
(Abel ersteht als Geist auf, Kain kehrt samt einem Falken als Reisebegleiter zurück zum gedeckten Tisch – als Halluzination zu deuten – und alle löffeln wieder an der Lebenssuppe. Ein starkes Finale)
Überzeugend interessanter Weise gerade auch das Zusammenspiel ohne Stilbruch zwischen gleichsam heutigen Menschen (Hilsdorfs durchdachte Personenführung!) in barock – inspirierten Kostümen (sehr geschmackvoll gelöst von Nicola Reichert).
Am Pult der bejubelten Essener Philharmoniker war Rubén Dubrovsky das stürmisch gefeierte Kraftzentrum des Abends. Das Orchester fühlte sich unter seiner hochsensiblen, von profundem Wissen um die ganz spezielle Rhetorik dieses „szenischen Oratoriums“ geprägten musikalischen Leitung hörbar wohl und in besonderem Ausmaß inspiriert. Absolute Klasse dabei das siebenköpfige Continuo, das durch einen Bühnensteg, der in den Orchesterraum ragt, räumlich getrennt war. Was klanglich fabelhaften Effekt machte. Ich ziehe den Hut vor allen, im Besonderen vor dem Lautenisten Andreas Nachtsheim, den im Programm leider nicht namentlich genannten Flötistinnen und dem Fagottisten.
Bettina Ranch war mit gerundetem, sinnlichem und technisch bestens beschlagenen Mezzosopran ein Kain, der es durchaus mit den Weltstars der Mezzo-Barock-Szene aufnehmen kann. Philipp Mathmann, inzwischen als Shooting-Star im Exotenfach der Countersoprane gehandelt, meisterte mit Todesverachtung höchste Höhen (die ihm jedoch in der Hitze des Gefechtes gelegentlich etwas steif gerieten. Dennoch, ein sehr respektabler Gipfelsieg! Heftig akklamiert der souveräne, höhensichere Tenor des Dmitry Ivanchey und der innige Sopran der Tamara Banješević. Der Katalane Xavier Sabata gehört inzwischen zu den Urgesteinen in der Alte-Musik-Szene. Dunkler, satter Altus, im Schauspiel top, wenn er dem Teufel entgegen geht, ahnt man: jetzt wird was passieren! Er setzt schon auch mal Körperkräfte ein, wenn es gegen Kain oder auch den Teufel geht. In ausladender Barockrobe (der er im Gerangel mit Gott verlustig geht) war Baurzhan Anderzhanov ein elegant mephistophelischer Teufel, der gekonnt zwischen den Geschlechtern changierte. Sein Bass: schlank, markant, geschmeidig mit durchaus ironischem Touch. Ein Hauch von Cesare Siepi…
Fazit: Eine rundum gelungene Premiere!
(Die Reprisen: 30.1.; 20./29.2.; 4./8./20.3.; 3.5. 2020
Karl Masek