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ESSEN/ Aalto-Theater: DOGVILLE von Gordon Kampe. Uraufführung

24.03.2023 | Oper international

ESSEN: DOGVILLE von GORDON KAMPE – Uraufführung
23.3.2023 (Werner Häußner)

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Eine Szene aus der Essener Uraufführung von Gordon Kampes Oper „Dogville“. Foto: Matthias Jung

Der Weg zur Hölle ist 57 Meter lang und führt aufwärts. Eine Abfolge von Räumen, die sich wie Bilder auf einem Filmstreifen aneinander reihen. Für die Essener Uraufführung der Oper „Dogville“ nach dem Film von Lars von Trier hat sich Bühnenbildner Jo Schramm auf diese Weise von dem minimalistischen Probebühnen-Szenario des Films distanziert und gleichzeitig auf ein filmisches Element bezogen. Ein toller Raumeinfall: Wie die Stationen eines Kreuzwegs reihen sich die Szenen aneinander, in denen Grace, die Hauptperson des Stücks, erst subtil, dann brutal ihrer Integrität und Würde beraubt wird.

An den Film sollte seine Oper nicht erinnern, betont Gordon Kampe. Der lange an der Essener Folkwang-Hochschule und jetzt in Hamburg tätige Komponist hat gemeinsam mit Regisseur David Hermann und Dramaturg Christian Schröder das Libretto aus dem Filmskript erstellt. Drei Stunden Kino verdichtet auf 95 Minuten, der distanzierende Erzähler des Films gestrichen: Das bedeutet extreme Konzentration und fordert von der Musik umschweiflose Charakterisierungskunst. Beides ist gelungen: Kampe lässt das große Orchester mit Schlagwerk und einer kurzen elektronischen Einblendung flirrend ausdifferenziert Atmosphäre schaffen, prägnant die Psyche der dreizehn Figuren charakterisieren. Zwölf bilden zu Beginn zu einem lauernden, sich steigernden Sound ein Ensemble; ein Mann mit Bierkiste wiederholt wie einen cantus firmus: einsam, einsam …

Dann folgt eine klassische Opern-Exposition: Eine junge Frau in Weiß ist aus unklaren Gründen auf der Flucht vor einem Gangsterboss und sucht in Dogville Schutz. Bild für Bild werden die Menschen des Ortes vorgestellt, stets in ihrem Verhältnis zu Grace. Der Name bedeutet Anmut, könnte aber auch als „Gnade“ gelesen werden, die der geschlossenen Dorfgesellschaft eine Chance zum Aufbruch eröffnet. Mit solchen christlichen Assoziationen arbeitet der Film bis zu seinem gnadenlos-gerechten Ende. Auch in Kampes Oper trägt Grace solche Jesus-Züge: In ihren Eisenketten, geschlagen, gedemütigt, vergewaltigt, ist sie ein weibliches Bild des „Ecce homo“, in ihrer erschreckend konsequenten Vergeltung eine Figur wie der Christus der Apokalypse, der „zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters“ sitzt und von dort kommt, „zu richten die Lebenden und die Toten.“

Das Libretto schildert in geschickt kondensierten Szenen, wie zunächst niemand im Dorf die Hilfsangebote von Grace annimmt, wie aber alle für einen Verbleib der jungen Frau in Dogville stimmen, wie nach der Feier des amerikanischen Unabhängigkeitstags 4. Juli ein Steckbrief die Stimmung kippen lässt, sich die menschlichen Abgründe öffnen und Grace zum Opfer kollektiven Sadismus und individueller Gewalt wird. Kampes Musik meidet unmittelbar Illustratives, kreiert aber Atmosphäre, etwa in der Festszene, in der er Anklänge an Countrymusik und Fetzen von Folklore durch ein dystopisches musikalisches Chaos geistern lässt.

Gerade die sich steigernde Gewalt hat Kampe beklemmend eingefangen: Exemplarisch dafür sind die beiden Szenen, in denen ein Junge Grace eine raffinierte Falle stellt. Lenn Peris Beier singt dabei ein Kinderlied, das so unheimlich ist wie das „Malo“ in Benjamin Brittens „Turn of the screw“, das die uneingestandene Sehnsucht des Kindes Jason nach Zärtlichkeit ebenso einschließt wie die latente Aggressivität und eine zum Schluss offenliegende Bosheit, die Grace in eine aussichtslose Zwickmühle manövriert.

Das Essener Opernensemble leistet in der Regie David Hermanns Großartiges: Die Personen sind prägnant herausgearbeitet, unterstützt durch die Kostüme von Tabea Braun, die ihnen charakterisierende Alltagsklamotten verpasst hat. Für Lavinia Dames (Grace), Gast von der Deutschen Oper am Rhein, hat Gordon Kampe eine souverän bewältigte anspruchsvolle Partie geschrieben, die von Parlando bis zu weiten Puccini-Kantilenen reicht. Der Umbruch von der sanften, verletzlichen jungen Frau zur entschlossenen Rächerin geschieht in wenigen, allzu hastig vorgetragenen Sätzen im Schlussdialog mit ihrem Vater, dem Gangsterboss in schwarzer Film-Noir-Limousine (Karel Martin Ludvig).

Glänzend auch Rainer Maria Röhr als der Mann mit der Bierkiste, der als mieser, verzweifelter Ben in einem Rattenbau in Form eines umgekippten Pick-up, gequält von der eigenen Gier, Grace vergewaltigt. Tobias Greenhalgh fällt es bisweilen schwer, gerade in den tiefen Tönen den Kern seiner Stimme zu stabilisieren, gibt aber der zentralen Figur der Gesellschaft Dogvilles, dem jungen Tom Edison jr., den Touch zwischen Philosoph und Missionar, Liebessucher und fiesem Verräter. Heiko Trinsinger repräsentiert allein durch seinen machtvollen Bariton den aggressiven Chuck, dessen Frau Vera (Marie-Helen Joël) aus ihrer verhuschten Unterwürfigkeit heraus eine ausgesuchte Bosheit entwickelt.

Almuth Herbst repräsentiert als Ma Ginger mit ihren repetitiven Musik- und Sprachgebilden ein versteiftes Festhalten am Immergleichen. Der Counter Etienne Walch schlurft als Bill Henson zur Untat, wenn er seine Antriebslosigkeit verliert und Grace hinter einer Wand missbraucht. Und die junge Liz Henson (Maartje Rammeloo) bringt ins Spiel, welche untergründigen sexuellen Begierden unter der Oberfläche der Dorfgesellschaft kochen. Auch Alice Lackner (Martha), Christina Clark (Olivia), Bart Driessen (Thomas Edison senior) und Aalto-Urgestein Albrecht Kludszuweit (Polizist) tragen ihren Teil zum Erfolg des Ensembles bei, nicht zu vergessen Andrei Nicoara mit einer sorgfältigen Studie des blinden Jack McKay. GMD Tomáš Netopil und die geistesgegenwärtigen Essener Philharmoniker legen sich mit Verve und Präzision ins Zeug.

Die erste wirkliche Uraufführung im Aalto-Theater seit der Eröffnung: ein voller Erfolg.

Werner Häußner

 

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