Es ist Zeit für Eugène Ysaÿe – Wir bitten mit vier hochinteressante Neuerscheinungen vor den Vorhang
ANTJE WEITHAAS: Bach und Ysaÿe 3 – CAvi-music
„Für Bach schwärmen und Ysaÿe entdecken“
Vielleicht liegt der Schlüssel für das Verständnis zu dieser unglaublichen und geballten Ysaÿe-Renaissance auf Tonträgern in dem nun beendeten Aufnahme Großprojekt „Bach- Ysaÿe“. Die große deutsche Geigerin zieht faszinierende Parallelen und Querverweise zwischen der Violinkunst eines Johann Sebastian Bach und seinen Sonaten und Partiten für Violine Solo auf der einen Seite und den berühmten Sechs Sonaten für Violine solo Op. 27 des belgischen Star-Geigers Eugène Ysaÿe. Jede dieser Sonaten, die sich am Vorbild Bach orientieren, ist einem anderen populären Geiger seiner Zeit gewidmet (Joseph Szigeti, Jacques Thibaud, Georges Enesco, Fritz Kreisler, Mathieu Crickboom, Manuel Quiroga). Je mehr ich die neuen Aufnahmen höre, desto mehr begeistert mich die ungeheure – spieltechnisch den Charakter genau des jeweiligen Widmungsträgers einfangenden Geigenkunst – dieses bedeutendsten Vertreters der franco-flämischen Schule zu Beginn des 20. Jahrhunderts. An einem einzigen Tag im Jahr 1924 soll der damals 66-jährige alle Sonaten konzipiert haben. Wenn Sie sich das heute anhören, ist das fast nicht vorstellbar und wäre so, als wenn ein berühmter Architekt, sagen wir Jean Nouvel, sich an einem einzigen Tag den Torre Agbar in Barcelona, das Museo Reina Sofia in Madrid, die Foundation Cartier in Paris, das Konzerthaus Kopenhagen, das One Central Park sowie die Tours Duo ausgedacht hätte.
Antje Weithaas kombiniert in der letzten Folge ihres Projekts die Sonate Nr. 3 in C-Dur für Violine Solo BWV 1005 und die Partita Nr. 1 in h-Moll für Violine Solo BWV 1002 von Johann Sebastian Bach mit den Sonaten Nr. 6 und 4 Op. 27 von Eugène Ysaÿe. Antje Weithaas kultiviert für beide Komponisten einen objektiven sachlichen Ton, in der metrischen Strenge ihrer Performance ist kein Platz für Vibrato und noch weniger für ein expressives Sich-Versenken. Diese Werke in der Interpretation von Antje Weithaas leben ganz aus der Struktur heraus, das Universelle und Ewige in das Zentrum der musikalischen Aussage rückend. Ob es die Fritz Kreisler gewidmete Sonate Nr. 4 voller barocker Reminiszenzen oder die virtuoseste aller Ysaÿe Sonaten, nämlich die sechste, spanisch inspirierte, mit einer Habanera im Mittelteil, ist – es ist keine schnörkelige Art-Deco Welt geworden, die hier akustisch ersteht. Es ist ein erratisch untadeliges Spiel, das neue Maßstäbe setzt und Ysaÿe endgültig aus dem oberflächlichen Virtuoseneck auf eine Ebene mit Bach hebt. Unverzichtbar!
MARC BOUCHKOV: Werke von Eugène Ysaÿe, Ernest Chausson und Marc Bouchkov – CD harmonia#nova
Dieses in der neuen Serie harmonia#nova erschienene Album, die jungen Talenten ein öffentliches Forum bietet, ist eine ganz persönlich gefärbte Visitenkarte dieses jungen französischen Musikers mit ukrainischen Wurzeln geworden. Der ungestüm ausdrucksstarke Marc Bouchkov bricht dabei nicht nur eine Lanze für die beiden Sonaten Nr. 5 und 6 Op. 27 von Eugène Ysaÿe, sondern hat sich auch ins Archiv begeben. Er sieht Ysaÿe als den ersten großen Geiger, der in der klassischen Musik die Barrieren zwischen den einzelnen Genres einreißen wollte. Ysaÿe hat sein eigenes Streichquartett gegründet, mit Mathieu Crickboom als zweiten Geiger engagiert, dem er auch die fünfte Sonate widmete. Bouchkov betont die Farbenpracht dieser Jugendstilmusik mit herrlichsten Harmonien, aber ohne jeden Schwulst. In der Bibliothèque Royale de Belgique wird Bouchkov fündig und ist nun der erste, der zusammen mit seinem kongenialen Klavierpartner Georgiy Dubko Ysaÿes „Légende Norvégienne“ des jungen Komponisten überhaupt gespielt und auf Tonträgern festgehalten hat. Damit nicht genug: Die späte, alle Visionen Ysaÿes symbiotisch vereinende Fantaisie Op. 32 von Ysaÿe ist ebenso eine Weltersteinspielung von Rang geworden. Bouchkov ergänzt die CD um das Ysaÿe gewidmete Poème pour violon et Orchestre von Ernest Chausson, eingerichtet für Violine und Klavier sowie zwei hervorragenden Eigenkompositionen. 2015 schrieb er als autobiographische Einfühlung und Rückbezug zu seinen Wurzeln seine Fantaisie pour violon seul, basierend auf zwei folkloristischen Themen aus der Ukraine sowie als Hommage an seine Urgroßmutter Dora Vaitsner einen kurze Mélodie. Dora Vaitsner war die einzige Überlegende der Shoah in seiner Familie, die immer vor sich hinsummte und damit einen „unsicheren melancholischen Optimismus“ versprühte. Marc Bouchkov hat mit seiner Debüt-CD einen überaus berührenden, musikalisch grandiosen Einstand gefeiert. Wir wollen und werden noch von ihm hören.
STEFAN TARARA: 6 SONATEN für Violine Solo Op. 27 von Eugène Ysaÿe – Hybrid Multichannel SACD Ars Produktion
Veröffentlichung: November 2017
Diese Aufnahme mit dem in Heidelberg geborenen Stefan Tarara ist die klanglich ausgereifteste und raffinierteste. Auf seine Stradivari, Cremona 1721, auf der zuvor schon Fritz Kreisler, Augustin Dumay und Renaud Capucon gespielt haben, ließ er mit Gold umsponnene Darm-Saiten aufziehen, der Leuchtkraft wegen wurde die hohe E-Saite sogar platiniert. Das Resultat ist überzeugend: Selten noch habe ich einen so satten Violinklang gehört mit samtener Tiefe und leuchtenden Höhen.
Von der Interpretation her geht Tarara die sechs Sonaten bedächtiger, romantischer aber auch expressiver und die Gegensätze zuspitzender an. Er braucht sieben Minuten länger als etwa Guzzo. Tarara jongliert frei und voller Passion mit dem musikalischen Material, er setzt eigene schlüssige Akzente im rhythmischen Geflecht. Insbesondere fühlt sich Tarara aus seiner persönlichen Geschichte her mit der dritten Sonate, George Enescu gewidmet, verbunden. Sein Ansatz erklärt sich vielleicht am besten aus einem Satz im Booklet: „Ysaÿe geht es um Farbenreichtum und Klangschönheit, er stellte die Musikalität über die Technik, er definierte Vibrato, Portamento und Rubato faktisch neu.“ In diesem Sinne ist Tararas neue CD ein sehr persönliches bekenntnishaftes Dokument geworden.
GIOVANNI GUZZO: 6 SONATEN für Violine Solo Op. 27 von Eugène Ysaÿe – RUBICON CD
Der venezolanische Geiger Giovanni Guzzo erfreut mit einer metaphysisch und dennoch höchst lebendigen Interpretation auf seinem Instrument von Nicolò Gagliano aus 1759. Für ihn ist die Aufnahme ein Wunschtraum, diesen technischen „Quantensprung“ für die Geige an eine fantastische musikalische Reise zu knüpfen.
Guzzo will „den Schleier der Komplexität lüften, um die Musik hinter den Knalleffekten, die Perle in der Auster zum Vorschein zu bringen.“ Es ist beeindruckend, wie klar die komplexen Doppel- bis Sechsfachgriffe, die polyphonen Geflechte ebenso wie rhapsodischen oder folkloristischen Elemente herausgearbeitet werden. Das Ohr gleitet über eine imaginäre Klangwiese und pflückt aus der Unmenge an Blumen das, was gerade am nächsten und schönsten blüht. Eugène Ysaÿe liebte Picknicks unter Bäumen, zu denen er seine Schüler einlud, wo auch viel gegessen und gefiedelt wurde. Wir sitzen als Zaungäste dabei und lauschen dem Spiel.
Als Kammermusiker arbeitete Giovanni Guzzo mit Maxim Vengerov, Daniel Hope, Martha Argerich oder Joshua Bell zusammen. Er ist nebstbei erster Gastdirigent des Budapest Festival Orchestra. Mit dieser Aufnahme erweist er sich als immenser Strukturalist mit feiner Musikalität und übersetzt seismographisch Impressionismus und Fin-de-Siècle in duftigen Klang.
Dr. Ingobert Waltenberger