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ERFURT/ Theater: WEST SIDE STORY. Liebe macht blind – Romeo und Julia als Unterschichtentragödie

31.10.2016 | Operette/Musical

Theater Erfurt 30.10.2016 / Aufführung: West Side Story von Leonard Bernstein

Liebe macht blind – Romeo und Julia als Unterschichtentragödie

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Copyright: Theater Erfurt

Aus dem Weltall führt ein Video den Zuschauer direkt in die Straßenschlucht der West Side, das Viertel der Abgehängten. Die wollen sich garantiert in der Unterschicht unterscheiden. Da sind die Jets, die immerhin da geboren sind, und da sind die Sharks, aus Puerto Rico, die sind noch neu und drängeln sich jetzt auch rein in den amerikanischen Traum, der sich längst als Irrtum zeigt und im Stück später als Alptraum erweisen wird.

Da ist das provokante Fingerschnippen der Straßengangs, das Aufheulen der Polizeisirenen, die fliegenden Röcke der Puerto Ricanerinnen, ewige Liebe und verhängnisvolle Feindschaft in den heruntergekommenen Hinterhöfen der West Side.

Wenige Töne der inzwischen weltberühmten Kompositionen Leonard Bernsteins wie Maria, Tonight, Somewhere, America und I Feel Pretty genügen, um diese Bilder aufzurufen. Coole Jungs und heiße Mädchen in den letzten Sommertagen Manhattans: Mambo, Jazz und Rock’n’Roll, der mitten ins Herz trifft. Da, wo die Liebe die Protagonisten blind für alle Hindernisse macht.

Genügend Spannung also, um Erwartungen zu wecken und die Frage, wie wird Regisseurin und Choreografin Pascale-Sabine Chevroton mit dem so bekannten Stoff umgehen? Während der Proben hatte sie schon angedeutet, eine stärkere Nähe zu Shakespeares Romeo und Julia zu suchen.

Der Prolog beginnt schon sehr dynamisch, allerdings auch ziemlich brutal. Nur Fäuste genügen nicht, da müssen noch Eisenstangen her. Ansonsten ist das Geraufe anfänglich immer noch verspielt.

Das Regieteam Chevrotons: Sabine Hack als Co-Choreographin, Stefan Winkler Licht, Jean-Loup Fourure, Video und Bühnenbildner Jürgen Kirner sowie Kostümbildnerin Tanja Liebermann versetzen die Zuschauer in die trostlose Welt von geborstenen Betonbrocken, das könnte überall sein und so ist es auch gemeint. Denn schließlich gibt es den Unterschichtenkampf rund um die Welt, dazwischen schöne lyrische und auch kitschig amerikanische Bilder, wie Cheerleader und ein rosa Schlafzimmer zum Liebesschwelgen für die Shark-Girls. Natürlich kommen zwischendurch auch mal kleine Reminiszenzen an amerikanische Sternchen und Streifen. Der Hintergrund wechselt auch zu Caspar David Friedrichs „Eismeer“-Bild – vielleicht eine Anspielung auf die geborstene Hoffnung.

Regisseurin Pascale Chevroton will auf den Kern der Geschichte hin, auf den tragischen Archetyp der Story: Die verbotene Liebe zwischen dem Amerikaner Tony, gespielt von Gero Wendorff und der Puerto-Ricanerin Maria, Daniela Gerstenmeyer und dem unmöglichen Versuch dieser Liebe Dauer zu verleihen. Die Liebeswelt der beiden kollidiert mit den Regeln der Straße. Gerade Tony, der den Teufelskreis zu durchbrechen versucht, der scheitert, indem er Marias Bruder Bernardo im Affekt tötet. Die Sehnsucht nach Glück führt dann auch noch zu Tonys Tod, der selbst seinen Mörder Chino, Dennis Schigiol, sucht, nachdem die fast vergewaltigte Anita, gespielt von Katja Bildt, behauptet hat, Maria sei schon von Chino erschossen worden. Am Schluss steht das sinnlose Ende einer Liebe, die Grenzen überwinden wollte. Doc, als Außenstehender, dargestellt von Ks. Jörg Rathmann, gibt sich alle Mühe, besänftigend auf die Jugendlichen einzuwirken. Zuletzt wirft er ihnen vor, dass sie ihre eigene Welt zerstören.

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Daniela Gerstenmeyer, Katja Bildt. Copyright: Theater Erfurt

Tony hat sogar eine kleine Anstellung bei ihm, doch sein Kumpel Riff, Máté Sólyom-Nagy, zieht ihn wieder hinein in die Gang. Eigentlich sollte ja nur ein fairer Faustkampf stattfinden. Doch da Tony schlichten will und möglichst gar kein Kampf stattfinden soll, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Diese Unmöglichkeit einer Verständigung wird von Pascale Chevroton sehr gut herausgearbeitet. Dennoch treibt sie das Finstere auf die Spitze in der Szene als die Jets den Officer Krupke imitieren, lässt sie Krupke tatsächlich auftreten und zum Schluss der schrägen parodistischen Szene knallt dann noch eine Pistole und der Officer bleibt leblos liegen. Ein Toter mehr, der dieser Szene den Spaß abnimmt. Ist das von dem Choreographen Robbins und dem Texter Laurents so gewollt gewesen? Krupke wird gut geschauspielert von Stefan Bräuler, der auch den Tanzlehrer in der Disco-Szene mimt. Eine gewollt finstere Figur ist Lt. Schrank, Gregor Loebel, der beobachtend abgehoben in die Szenen eintritt, dazwischen sitzt er stumm am linken Bühnenrand. Überhaupt erweist sich diese Inszenierung als ein Wechselspiel zwischen sehr energiegeladenen Tanzszenen und meist sehr statischen Gesangs- und Sprechszenen. Alle Darsteller sind mit Microports ausgestattet und die Lautsprecher-Übertragung hat oft einen metallischen Klang. Den Sprechszenen fehlt der jugendliche Kick, die die Tanzszenen haben. Dieses laienhaft wirkende Sprechen schafft innerhalb der Inszenierung einen Kontrast. Die Gangmitglieder kommen musicalhaft manchmal zu wenig locker rüber. So erscheint die gesamte Aufführung nicht immer aus einem Guss und spielerische Leichtigkeit fehlt etwas.

Musikalisch kann Zoi Tsokanou das Philharmonische Orchester Erfurt gut durch die jazzigen und lateinamerikanischen Rhythmen führen. Auch die lyrischen und balladenhaften Momente klingen schön ausgewogen. Die treibenden hektischen Rhythmen der Jets und den Huapango-Rhythmus, der die Charks charakterisiert, lässt sie vom Orchester filigran und facettenreich spielen. Sowohl die starken Synkopen als auch die abreißenden Melodien der Jazzband und das große Unterhaltungsorchester mit der besonderen Betonung lateinamerikanischer Perkussionsinstrumente sind ein Hörgenuss.

Stimmlich ist Katja Bildt als Anita ein Höhepunkt, die mit viel Gefühl sehr glaubwürdig ihre Rolle verkörpert und auch Daniela Gerstenmeyer singt ihre Rolle als Maria mit schönem Schmelz. Und beim Liebesschwur „Tonight“ bildet sie mit Gero Wendorff eine gelungene Klangeinheit, bejubelt mit Szenenapplaus. Máté Sólyom-Nagy als Riff überzeugt mit seiner Gesangsdarstellung. Das Quintet und der Chorus zu Tonight vor dem eigentlichen Zweikampf (Rumble) mit Anita, Tony, Maria, den Jets und den Sharks wird zu einem Höhepunkt mit starker Wirkung im ersten Akt aufgebaut. Im zweiten Akt setzen I Feel Pretty, Somewhere und A Boy Like That/I Have A Love von Anita, Bildt und Maria, Gerstenmeyer diese Reihe gelungener Gesangsdarstellungen fort.

Nach dem tragischen Schluss folgt viel Beifall für die jugendlichen und die älteren Darsteller. Eine Inszenierung, die in vielen Momenten sehr hinreißend ist, die aber auch durch statisch gespielte Szenen an Dynamik verliert und dadurch fragmentiert wirkt.

Sehens, Hörens und Nachdenkens wert ist Pascale Chevrotons Inszenierung auf jeden Fall.

Larissa Gawritschenko und Thomas Janda

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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