Eleusis 2023 – European Capital of Culture
Archaeological Site of Elefsina
Romeo Castellucci: MA
Besuchte Vorstellung am 2. September 2923
Eleusis 2023/ Romeo Castellucci
Einbruch der Wirklichkeit ins Heiligtum
Elefsina ist die bislang kleinste Europäische Kulturhauptstadt und hatte wie andere mit den Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen, welche zu einer zeitlichen Verschiebung des Anlasses führten. Michail Marmarinos setzt in seinem Programmkonzept einen starken Fokus auf auf Bezüge zum antiken Erbe. In der Tat war das Demeter-Heiligtum von Eleusis von zentraler Bedeutung für die alte, griechische Welt. Dank archäologischen und philologischen Forschungen weiss man heute recht viel über die eleusinischen Mysterien. Das Geschehen kreiste um Demeter, die Göttin der Erde und Fruchtbarkeit, die, als sie die von Hades geraubte Tochter Persephone sucht, ihre Pflichten vernachlässigt. So wird der Winter begründet. Sie lehrt aber auch Triptolemos die Landwirtschaft. Die Zurückholung der Tochter auf die Erde markiert den Frühlingsbeginn. Da Hades Persephone in einen Granatapfel beissen lässt, muss diese aber ein Drittel des Jahres in der Unterwelt verbringen. So erklärt sich der Wechsel der Jahreszeiten (wobei man den Herbst noch nicht dazuzählte). Die antiken Mysterien fanden in kleinerer Form im Februar/März und ausgedehnter im September statt. Sie erinnerten an Persephones Rückkehr auf die Erde und waren mit einem Initiationsritus für junge Männer verbunden.
Die Einladung von Romeo Castellucci nach Elefsina war schon seit den Tagen der Bewerbung für die Kulturhauptstadt vorgesehen. Das Interesse des italienischen Theatermachers an Antike, symbolischen Handlungen und Lesarten sowie seine Gabe heutige Wirklichkeit mit Kontexten der Vergangenheit zu verbinden, lassen sein Auftreten hier sofort plausibel erscheinen. In der Tat hat Castellucci ein interessantes Konzept für die archäologische Stätte der Stadt entwickelt. Seine Performance „MA“ – es ist erlaubt, an Mama zu denken – fokussiert sich auf den Aspekt der Muttergottheit Demeter, der Mutter Erde, und fügt dieser ihr christliches Pendant, die Jungfrau Maria, hinzu. Entscheidend ist die Intervention, welche Castellucci vornimmt, die einen Verstoss gegen eine fundamentale Regel des antiken Heiligtums darstellt: Der Regisseur lässt einen tatsächlichen Muttermörder die archäologische Stätte betreten. So wird das, was wir zu sehen bekommen, zu einem Ritual, einer Erzählung über ein Matricide. Das Stationendrama hat Castellucci zusammen mit der Choreografin Gloria Dorliguzzo und dem Komponisten Demetrio Castellucci, seinem Sohn, erarbeitet. Es ist ein einstündiger performativer Spaziergang durch Vergangenheit und Gegenwart.
Eleusis 2023/ Romeo Castellucci
Die Zuschauer betreten das archäologische Gelände von Süden her und erreichen zunächst den heiligen Hof. Dort erblickt man hinter Relieffragmenten sich balgende, nackte Menschenleiber. Halb verborgen vor unseren Blicken geschieht hier der Muttermord. Eine ältere Frau mit einer Stange, an der ein Stück eines Plastikstuhls hängt, dient fortan als Führerin durch das Geschehen. Das Publikum folgt ihr zum Telesterion, genauer zu den Ruinen einer Halle, in der einst die geheimen Rituale stattfanden. Auch jetzt führen hier eine grössere Gruppe von Frauen und vier Mädchen diverse Rituale und ritualartige Tänze auf. Zu erwähnen ist dabei das Abzapfen von Muttermilch, die in einer langen Glasröhre gesammelt wird. Alle Aktionen stehen im Zeichen der Mutterschaft und des Frauwerdens. Der letzte Teil der Handlung vollzieht sich vor der Höhle des Pluto, dem Eingang zur Unterwelt. Dort befindet sich eine Altartafel der Frührenaissance mit der Verkündigungsszene. Filippo Addamo, der nach langjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassene Muttermörder, betritt das Gelände von Norden, wo die aus Athen kommende Strasse Iera Odos endet. Er nähert sich zögerlich, er tastet sich vor, küsst den Boden und streicht über Steinblöcke. Vor dem Altarbild opfert er die Muttermilch und kniet sich schliesslich analog zum Verkündiger des Gemäldes vor der Muttergottes, die auch Demeter und seine eigene Mutter meint, nieder. Eine Szene der Hoffnung auf Vergebung beschliesst Castellucci’s Performance.
Die Nutzung der archäologischen Stätte überzeugt, Castellucci vermag es, Ideen und Rituale der Antike zu reaktivieren. Der durch Filippo Addamo geschaffene Gegenwartsbezug stellt interessante Fragen und erweitert das in der Vergangenheit Verhandelte. Dass der von seinem Sohn mit traditionellen Instrumenten kreierte Sound wie aus der Erde zu kommen scheint, unterstreicht den mystischen Charakter des Geschehens. Einzig bei der Choreografie wäre weniger mehr gewesen. Viele Gesten und Schritte wirken zu künstlich und bekannt, die Raumgestaltung, etwa die Positionierungen der Frauen vor der Felswand, gelingt deutlich besser. Castellucci’s „MA“ bietet die Möglichkeit, die archäologische Stätte anders, emotionaler zu verstehen. Mit der Performance bringt die Europäische Kulturhauptstadt ihr um Mysterien kreisendes Konzept auf den Punkt. Vom Publikum gibt es viel Zustimmung hierfür.
Ingo Starz (Athen)