„Ich möchte gerne sehr direkt sein!“ Interview mit der Pianistin Ekaterina Litvintseva zu ihrer neuen Aufnahme des Ersten Klavierkonzertes von Johannes Brahms
Ekaterina Litvintseva wuchs am nordöstlichsten Zipfel Russlands auf – nicht nur dieser Aspekt hat sie darin geprägt, einen möglichst ganzheitlichen Blick auf sich selbst und damit auf die Musik zu bekommen. Konsequent ist es daher, wenn die Pianistin bei der Aufnahme des Ersten Klavierkonzerts von Johannes Brahms den großen durchgehenden Bogen favorisiert – dafür kommt eine Liveaufnahme wie gerufen. Die Klassische Philharmonie Bonn unter Leitung von Heribert Bessel erwies sich hier als verlässlicher Partner.
Das Interview führte Stefan Pieper
Ich habe mit Freude die neue CD gehört. Die Lebendigkeit und Energie hat mich sehr begeistert. Ob dies etwas damit zu tun hat, dass es sich hier um eine Liveaufnahme handelt?
Ich mag Liveaufnahmen sehr. Ich hatte bislang drei mal die Chance, mit der klassischen Philharmonie Bonn aufzunehmen. Das Brahms-Konzert haben wir auf einer Tournee gespielt – es waren insgesamt 13 Auftritte. Nach dem zehnten Konzert haben wir eine Aufnahme organisiert und das Konzert live aufgenommen. Es sind sehr schöne Erinnerungen!
Waren die Konzerte jeweils eine Art „Probe“ für die Aufnahme? Welche Qualität hat es, live vor Publikum zu spielen?
Ich habe beides gemacht. Ich habe Liveaufnahmen gemacht, aber auch im Studio CDs aufgenommen. Auf einer Seite ist Liveaufnehmen leichter. Da ist eine Stunde, um alles zu zeigen. Das verlangt volle Konzentration. Es gibt keine zweite Chance. Es ist ein gewisses Risiko. Aber man spielt inspirierter, manchmal kommen unerwartete Momente beim Livespielen. Diese Spontaneität ist schön. Oft entsteht etwas, was in einer Studioaufnahme in dieser Form nicht aufkommt. Klar, im Studio geht manches noch sauberer und präziser. Aber den Esprit einer Liveaufnahme finde ich einfach spannender. Vor dem Konzert bin ich unglaublich nervös. Entweder jetzt oder nie – lautet die Devise. Man muss starke Nerven haben.
Was empfinden Sie, während das Orchester die lange Einleitung spielt und Sie auf den Einsatz warten?
Ich habe schon die ganze Musik im Kopf, wenn ich auf die Bühne gehe. Wenn ich mich hinsetze, läuft schon alles – das hilft mir. Das Hören ist schon eine Art von Mit-Spielen.
Und der Moment des Einsatzes?
Es geht darum, die Linie fortzusetzen beim Einsatz. Wenn das Klavier übernimmt, läuft die Linie weiter. Alles muss in gleichem Tempo sein. Ich mag es nicht, wenn ein Orchester vor meinem Anfang langsamer spielt. Es kommt dann unerwartet – keiner muss wissen, jetzt fängt es an! Ich setze die Linie fort. Ich muss den Fluss und das Tempo fühlen. Es ist wichtig, in die Musik einzutauchen.
Aber in meiner Wahrnehmung passiert doch noch viel mehr! Trotz des präzise durchgehaltenen Tempos wirkt alles sehr beweglich und dramaturgisch. Sie finden aus einer tiefen inneren Ruhe hinein in die Sache und kommentieren Sie.
Schön, wenn dieser Eindruck beim Hörer überkommt. Eine solche Reflexion ist mein Anliegen. Ich habe mir sehr viele Gedanken gemacht und vieles schon bei der ersten Probe mit Orchester intuitiv erfasst – aber gar nicht so viel besprochen, nur einige Sachen. Mir wäre es wichtig, dass wir nicht die Musik zu sehr zerstückeln. Es ist wichtig, den Blick auf das Ganze nicht zu verlieren. Es muss aus einem Bogen heraus gespielt werden. Trotzdem braucht es Zeit und Raum, um alles zu sagen und alle Kleinigkeiten zu zeigen, und gleichzeitig den großen Bogen zu spannen.
Ich vergleiche gerade das Aufnehmen von Musik mit meiner Praxis als Schreibender. Studioaufnahme kommt mir so vor wie das heute übliche Erstellen von Texten am Computer. Man schreibt ins unreine, ändert, fügt ein, tauscht aus, korrigiert drumherum. Früher wurde alles in einem Durchgang aufgeschrieben – und es sind keine schlechteren Texte entstanden.
Man muss sich schon ganz genau überlegen, was man in den nächsten 50 Minuten sagen will. Wie soll es aufgebaut sein? Was kann ich noch klarer spielen? Welche Extreme kann ich noch stärker herausarbeiten? Wie kann ich es noch ausgewogener machen. Eine interessante Erfahrung mache ich immer wieder: Es gab nicht viel Zeit zum Üben zwischen den Konzerten – aber das war auch nicht nötig. Die Arbeit passiert im Kopf zwischen den Konzerten. Das ist die beste Erfahrung. Sobald ich ein Konzert auf der Bühne gespielt habe, ist der Überblick da – dann sieht man sofort wie auf einem Bild, was womöglich noch fehlt. Wie kann man manches noch klarer spielen? Beim zweiten Konzert wusste ich dann schon automatisch, was noch fehlte.
Welche Energie gibt einem das Publikum?
Man ist einfach unter Adrenalin, deswegen ist alles einfach da. Man denkt schneller, alles passiert viel schneller, man springt aus der Haut und über den Schatten hinaus – das ist ein tolles Erlebnis.
Wenn in einem Konzert besondere Momente passieren, hat dies mit dem berühmten Sprung über den eigenen Schatten zu tun.
Was bedeutet Ihnen gerade dieses Konzert?
Es dauerte schon lange, bis ich gewagt habe, dieses Konzert zu spielen. Man fragt sich automatisch: Bin ich reif für diese Musik? Kann ich mir selber diese Musik erklären? Wenn ich alles verstehe, dann weiß ich, dass es auch für andere überzeugend klingt. Bei Brahms habe ich mir sehr viele Fragen gestellt. Kann ich mit meiner Erfahrung alles übertragen, so dass dies verständlich wird? Habe ich genug zu sagen? Ich denke, ich habe einige Charaktereigenschaften, die mir helfen. Ich bin ernst. Ernst sein heißt Wahrheit sprechen und ich möchte gerne sehr direkt sein dabei. Ich selbst strebe für mich einen möglichst ganzheitlichen Charakter an. Solche Eigenschaften helfen mir, dieses Klavierkonzert zu spielen. Ich wage zu sagen, dass ich es kann. Für mich bündelt sich hier sehr viel Tiefe und Leidenschaft. Es ist eine ganz andere Leidenschaft als bei Rachmaninoff. Es ist eine ganz andere Art von Emotion. Es ist sehr leidenschaftlich erzählt, aber von einem sehr weisen Menschen, der schon ganz viel erlebt hat.
Das ist schon erstaunlich. Brahms war Anfang 20, als er diese Musik geschrieben hat.
Ja, erstaunlicherweise. Er war sehr jung. Ich weiß nicht, wie Brahms es empfunden hat. Es gibt etwas ganz seriöses, tiefes und auch ganz viel Leidenschaft. Aber es ist eine andere Art von Leidenschaft. Wie kann ich diese Emotionen vermitteln? Man darf nicht sentimental sein, obwohl diese Musik sehr berührend ist. Es ist schwer, mit Worten auszudrücken.
Also sind die Schwierigkeiten nicht eher technischer Natur? Worauf kommt es umso mehr an?
Vom technischen her ist es spielbar. Die Tiefe und diese Emotion heraus zu arbeiten, das ist die Herausforderung. Vor allem geht es darum, dass es die Menschen berührt. Ich hoffe, ich habe es in die richtige Richtung gebracht und es so gemacht, wie ich es von Brahms gedacht habe. Man kann mit diesem Werk nicht so leicht umgehen. Es geht um Ehrlichkeit.
Es gibt Musik, die vor allem von ihrer Virtuosität her fasziniert. Bei Brahms ist so etwas unmöglich. Es gibt nichts, was vordergründig nur technisch fasziniert. Man kann sich bei Brahms nicht hinter solchem Blendwerk verstecken. Hier liegt eine andere Art der Expressivität vor. Auf jeden Fall kommt die Frage auf: Wie berühre ich die Menschen? Ich mag es sehr, nach einem Konzert mit meinem Publikum zu sprechen. Ich sammele diese Eindrücke, sie sind mir wichtig. Für mich ist es der Mittelpunkt.
Ihr Heimatort ganz hoch oben im äußersten Nordosten Russlands fasziniert mich, allein wegen seiner geografisch sehr exponierten Lage. Als ich googlemaps dazu bewegen wollte, von diesem Ort eine Wegstrecke bis zu Ihrem heutigen Wohnort Köln zu berechnen, wurde die Ansicht sofort auf den ganzen Planeten gezoomt und es kam eine Fehlermeldung.
Ja, es ist verrückt. Weiter östlich geht kaum noch und zugleich ist die USA schon wieder ganz nah. Man muss 9 Stunden nach Moskau fliegen. Ich war vor 7 Jahren zum letzten Mal dort, um ein Konzert zu geben. Als Kind habe ich alles dort ganz anders erlebt. Da war alles für mich wie in einem Märchen. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ist direkt am Meer und der Himmel ist so unendlich weit. Die Natur ist faszinierend. Dieser Ort ist für echte Romantiker ideal. Die Menschen dort sind so freundlich, das Leben ist so langsam. Es ist einfach schön!
Sie leben heute in Köln bestimmt in einem ganz anderen Extrem?
Vor allem Moskau, wo ich zum Studium hingegangen bin, war ein Extrem. Hier fing das echte, harte Leben für mich an, was manchmal ein großer Stress für mich war. Die Leute dort waren ganz anders und nicht so lieb. Das Leben war so schnell – ich war nicht daran gewohnt. Aber nach einem Jahr war ich integriert in diesem Leben. Trotzdem: Diese Grundeigenschaften, die mich von kleinauf geprägt haben, sind bei mir geblieben. Vor allem das Bedürfnis, mich als großes Ganzes zu sehen.
Stefan Pieper
CD:
Johannes Brahms,
Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll
Hänssler Klassik 2018