DVD:
Thomas Adès
THE EXTERMINATING ANGEL
Metropolitan Opera 2017
Erato / Warner Classics
Keine Frage, es werden immer wieder neue Opern geschrieben und gespielt, aber nur wenige Komponisten schaffen es in die A-Klasse – in die ersten Häuser, in die Reprisen durch andere große Opernhäuser. Der Brite Thomas Adès zählt spätestens seit seinem „Tempest“ zu den Großen der Szene. Seine nächste Oper, „The Exterminating Angel“, die Vertonung eines Filmsujets von Luis Bunuel („Der Würgeengel“ von 1962, schwarzweiß, surreal) wurde bei den Salzburger Festspielen 2016 uraufgeführt und die Inszenierung in London, an der New Yorker Metropolitan Oper und auch noch in Kopenhagen nachgespielt.
Die DVD der Met-Aufführung liegt nun vor. Damit ist ein Werk, das es dem Betrachter und Zuhörer nicht unbedingt leicht macht, solcherart optimal zugänglich. Neue Opern ein einziges Mal live (oder per „Die Met im Kino“) zu sehen, reicht oft nicht aus, um das Werk wirklich zu erfassen. So wie „The Tempest“, wo auch mehrere Besuche (oder DVD-Ansichten) nötig waren, um die Komplexität von Musik und Handlung wirklich zu erfassen, braucht der „Exterminating Angel“, wie ihn Adès so großartig vom Film auf die Opernbühne brachte, die Übersicht über das Ganze und die Einsicht ins Detail. Was von den Filmübertragungen ja im allgemeinen ausgezeichnet geboten wird.
Dennoch: Das Problem, dass die Oper keinen erkennbaren Helden, keine zentrale Figur hat, begleitet das Werk den ganzen Abend lang. Da Librettist Tom Cairns sich eng an die Bunuel Vorlage hält, ist die Geschichte als Opernstoff oberflächlich betrachtet kaum geeignet: keinerlei evidente Übersichtlichkeit, auch geringer „Unterhaltungswert“ (wollte man, was nicht zulässig ist, mit „Zauberflöte“ oder „Tosca“, den „unterhaltenden Opern“ schlechthin, vergleichen). Eine Party, es soll im Spanien der 60er Jahre spielen, im Haus des Ehepaars de Nobile, zu Ehren der Opernsängerin Leticia. Reiche Leute in Abendkleidung (bei den Damen unterscheidet man noch die Farbe der Roben, die Männer wirken einheitlich in schwarzen Anzug). Musik, Text, Kamera fahren von einem Protagonisten zum nächsten, und am Ende ragt immer nur Audrey Luna als wahre Primadonna mit ihren unglaublichen hohen Tönen (ihr drei gestrichenes A galt als der höchste je an der Met gesungene Ton) hervor. Oder John Tomlinson, mit weißem Haar und unübersehbar, auch in seiner Rolle als Arzt, die anderen Herren des Geschehens differenzieren sich im Auge des Betrachters erst nach und nach.
Da sind also Edmundo de Nobile (Joseph Kaiser) und seine Gattin Lucia (Amanda Echalaz), da ist Leonora Palma (Alice Coote), die den Doktor belästigt, da ist Silvia de Ávila (Sally Matthews), die für ihren Bruder Francisco (Countertenor Iestyn Davies) große Anteilnahme hegt. Da ist Blanca Delgado (Christine Rice), die im Lauf des Geschehens die Nerven wegwirft. Beatriz (Sophie Bevan) und Eduardo (David Portillo) sind ein junges Paar, das angesichts der kommenden Ereignisse beschließt, gemeinsam zu sterben, statt sich einem erschütternden Untergang zu stellen.
Und noch eine Handvoll Herren, darunter Colonel Álvaro Gómez (David Adam Moore), der Liebhaber der Hausherrin, Frédéric Antoun als streitsüchtiger Raúl Yebenes. Rod Gilfry als Alberto Roc, Kevin Burdette als Señor Russell, der bald eine Leiche ist, und Christian Van Horn als Julio, der einzige, aus der Dienerschaft, der bei der Herrschaft geblieben ist, als alle anderen verschwunden sind.
Um all dies zu erkennen, muss man die Untertitel lesen, denn so, wie Adès die Singstimmen in ihre Extreme peitscht, ist das Englisch nicht zu verstehen. Aber nichts bietet besser als DVD die Möglichkeit, dem Werk nahezukommen. Vor allem vermittelt sich die Stimmung einer ziellosen Gesellschaft, die sich im ersten Akt sichtlich langweilt, nicht weiß, was sie miteinander anfangen sollen, bis einzelne zu irgendwelchen privaten Gesprächen zu einander finden. Schon hier ist die Kritik an den Menschen, die vorgeführt werden, evident – Tom Cairns, der auch inszeniert hat (so wie Komponist Adès am Pult steht), lässt sie gewissermaßen „floaten“.
Bis dann am folgenden Morgen die Irritation einsetzt, als die aus schlechtem Schlaf erwachten Menschen realisieren, dass sie – ohne dass man „Gitter“ sehen würde – gefangen sind, ohne dass man weiß, warum und wieso. (Dieses Element war Thomas Adès sehr wichtig, das metaphysische Bunuel’sche „Würgen“, das ja bei ihm zur „Extermination“, zur Auslöschung, gesteigert wird.) Die Situation der Unsicherheit eskaliert zur Gereiztheit, nimmt fast Horror-Touch an. Es gibt eine Leiche.
Dann wechselt die Szenerie, man ist außen vor und drinnen zugleich, wo jetzt schon die Halluzinationen und Hysterien herrschen, echte Schafe wandern in den Salon, mit Tieropfern will man eine nicht begreifliche Situation mit archaischen Mitteln bewältigen… und, keine Frage, dass der Zuschauer nach etwas mehr als zwei Stunden eher ratlos zurück bleibt. (Die DVD hat dankenswerterweise die Pausengespräche mit Susan Graham an die komplette Oper angehängt, man muss das Ereignis ja nicht, wie bei der Live-Übertragung unterbrechen.)
Was hat man nun gesehen? Sicherlich teilweise eine Anti-Oper, die sich allen Gesetzen einer klar nachvollziehbaren Story (die im „Tempest“ ja durch Shakespeares Stück noch erkennbar war) verweigert. Andererseits ist der Stimmungsgehalt der Produktion sehr stark, das Symbolische des Geschehens ist erkennbar, das sich gegen großbürgerliche Leere richtet, die (schon von Bunuel) grundlegend erschüttert wird.
Und die Musik von Adès überzeugt umso mehr, je öfter man sie hört, vor allem in der Vielfalt der Orchestersprache (Glocken, Trommeln, das elektronische „Ondes Martenot“) und in den Überraschungen, die sie in ihren hörbaren Bezügen immer wieder bietet. Man sollte sich darauf einlassen – schon um dem Genre Oper zuzugestehen, dass es nicht nur in glanzvoller Vergangenheit, sondern auch in interessanter Gegenwart existiert.
Renate Wagner
Thomas Adès / Tom Cairns
THE EXTERMINATING ANGEL
Eine Produktion der Metropolitan Opera New York 2017
Tom Cairns Director
Thomas Adès Conductor
Joseph Kaiser … Edmondo de Noblie
Amanda Echalaz …Lucia
Audrey Luna … Leticia
Alice Coote …Leonora
Sally Matthews … Silvia
Iestyn Davies … Francisco
Christine Rice … Bianca
Rod Gilfry … Roc
Sophie Bevan … Beatriz
David Portillo … Eduardo
Frédéric Antoun … Raúl Yebenes
David Adam Moore … Colonel Álvaro Gómez
Kevin Burdette … Señor Russell
Sir John Tomlinson …Doctor Carlos Conde
Christian van Horn … Julio, the butler
John Irvin … Lucas, the footman
Ian Koziara …. Enrique, the waiter
Paul Corona … Pablo, the cook
Mary Dunleavy … Meni, a maid
Catherine Cook … Camila, a maid
Sprache: Englisch
Laufzeit: 142 Min.