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DVD Alban Berg: LULU (London, 2009)

25.11.2017 | CD/DVD/BUCH/Apps, dvd

DVD Cover  Lulu  London~1

Alban Berg:
LULU
Recorded live at the Royal Opera House, Covent Garden, London,
in June 2009
2 DVDs, Opus Arte Opus arte

Man weiß, wer Christof Loy ist und wie er arbeitet. Ein Opernhaus, das ihn engagiert, will ein Werk gegen den Strich gebürstet. Er hat oft bewiesen, dass er es kann, und er tat es auch 2009 mit Alban Bergs „Lulu“ in London. Die Inszenierung wurde von den Briten nicht durchwegs bejubelt – „this production remains a performance in search of a drama“, hieß es to the point formuliert u.a. in der englischen Presse, die immer nüchtern und unenthusiastisch ist und wo ein Kritiker auch einmal zugibt, sich zu langweilen. Und dennoch wurde gerade daraus schnell eine Kult-Aufführung, verewigt auf DVD, wo man diese „alternative Lulu“ nun betrachten, beurteilen und auch bewundern kann, wenn man Loy-Fan ist.

„Lulu“ ist als Werk nicht einfach, weil schon das zugrunde liegende Wedekind-Drama inhaltlich zerbröckelt, was sich allerdings auf dem Theater eher in den Griff bekommen lässt. Aber Alban Berg „bindet“ natürlich mit der Musik die inhaltlichen und psychologischen Sprünge. An sich ist es eine Geschichte, die ein realistisches Ambiente hat – im Deutschland des Fin de Siècle, die Schauplätze wechseln bis Paris und London (damit die Symbolfigur Jack the Ripper lethal zuschlagen kann), zwischen Zirkusmenagerie (für den Prolog), Atelier, Theater, Salon, bis zur elenden Absteige für das Finale.

Nichts davon gibt es in Loys Inszenierung, die gewissermaßen im leeren Raum stattfindet. Das ist natürlich Konzept, und ob es solcherart für die Zuschauer – die vielleicht nicht alle intime „Lulu“-Kenner sind – leicht wird, dem Geschehen zu folgen, ist keine Überlegung des Regisseurs. Darsteller im heutigen Gewand (besonders bei den Männern total einförmig) müssen einzig durch die Macht der Persönlichkeiten und durch die Konfiguration der Regie wirken. Es gelingt nicht durchwegs.

Londoner Lulu x

Hat man die Produktion gesehen, versteht man, warum Christof Loy Agneta Eichenholz für die Titelrolle wählte, eine Sängerin, die damals noch an deutschen Bühnen am Beginn ihrer Karriere stand, der Name noch nicht in der Opernwelt präsent, fast ein unbeschriebenes Blatt also. Jede andere Sängerin, der Loy die charakteristische Lulu-Pose – „Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier“ heißt es schließlich dezidiert im Prolog – dermaßen verweigert hätte, wäre vermutlich mit irgendeinem eigenen Image in den Clinch geraten. So wie Agneta Eichenholz auf der Bühne steht, die dunklen Haare zusammen gebunden, im schwarzen Etuikleid, mit undurchdringlicher, sogar starrer Miene, weist nichts an ihr auf die erotische femme fatale hin, die Wedekind (damals zur Empörung seiner Mitwelt) geschaffen und die Berg musikalisch umgesetzt hat: Die Frau, die sozusagen Erotik sprüht und damit die Männer in den Untergang treibt. Agneta Eichenholz sprüht, wenn das nicht ein Widerspruch in sich wäre, Kälte. Nicht wie eine Sexgöttin, wie eine Todesgöttin steht sie auf der Bühne.

Doch sie fasziniert auf ihre Art, in tiefinnerer Gleichgültigkeit und dann doch einiger Zielstrebigkeit, wenn sie etwa zur absolut bewussten Vernichtung von Dr. Schön ansetzt. Sie singt die stellenweise mörderische Passage mit derselben Selbstverständlichkeit, wie sie diese Lulu der anderen Art ist. Hier wollen Männer (auch wenn sie gelegentlich betatscht wird) weniger ihren Körper als ihre Gefühle – und nein, die gibt sie nicht. Mit dieser Lulu konnte Loy sein Konzept realisieren, konnte verständlich machen, dass Lulu auch jenseits von vordergründigem, brütendem Sex und weiblichem Hüftwackeln funktioniert.

Dass das Geschehen um Lulu gelegentlich einförmig wirkt, weil es szenisch nicht gegliedert wird (immerhin, die Waffen für diverse Selbstmorde und Morde sind vorhanden), kann nur von den großen Interpreten unterbrochen werden, voran Michael Volle als großartigem Dr. Schön, der diese Lulu regelrecht körperlich abschütteln will und ihr dennoch erliegt, so wie Klaus Florian Vogt als anfangs naiv wirkender, nach und nach mehr in den Untergang gezogener Alwa. Ein Fall für sich ist Jennifer Larmore als Geschwitz, vom Klischee her die „männliche“ Lesbe, verkrampft in ihrer Verfallenheit an Lulu: Jennifer Larmore hingegen ist weiblicher, weicher und auch erotischer als die Lulu dieses Abends, was einen seltsamen Kontrast bietet.

Loy hat für das Orchesterzwischenspiel, das Lulu im Gefängnis „überbrückt“, ein Video erstellen lassen, das markante Szenen des bisherigen Geschehens als schwarz-weiße Rückblende zeigt, Großaufnahmen, die sich in dieser perfekten Videoaufzeichnung der Aufführung ohne weiteres einfügen. Dass das Ende nachher in London in derselben Nicht-Welt spielt wie der Rest der Oper, war logische Konsequenz der Inszenierung. Nur das Finale in einem Lichtkegel könnte vielleicht eine Art Symbol sein – wofür bloß?

„Lulu“ ist auch nach oftmaligem Hören für das Publikum nicht einfach, weil die Zwölf-Ton-Musik in der Musikwelt nicht präsent genug ist, um für unsere Gewohnheiten leicht rezipierbar zu sein. Wenn ein Abend musikalisch so leicht und selbstverständlich wirkt wie unter der Leitung von Antonio Pappano, der mit dem Orchester „mitspielt“ und viel szenisch Fehlendes musikalisch zu ersetzen scheint, dann ist das eine große Leistung.

Die Londoner Aufführung unter Christof Loy ist also eine zwar andere, aber doch großartige „Lulu“ – und vermutlich nur mit dieser Hauptdarstellerin zu realisieren. Wenn Agneta Eichenholz nun in Willy Deckers Inszenierung an der Wiener Staatsoper die Lulu sein wird, ist das die Nagelprobe für eine große Künstlerin, wie viele andere Facetten der Lulu noch in ihr stecken.

Renate Wagner

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Alban Berg: LULU

London, Covent Garden, 2009
Antonio Pappano (conductor)
Christof Loy (director)

Agneta Eichenholz (Lulu),
Michael Volle (Dr. Schön/Jack the Ripper),
Klaus Florian Vogt (Alwa),
Jennifer Larmore (Countess Geschwitz),
Philip Langridge (Prince/Manservant/Marquis),
Heather Shipp (Dresser/Schoolboy/Groom),
Will Hartmann (Painter/Policeman/Negro),
Jeremy White (Banker/Professor)
Peter Rose (Animal Trainer/Athlete)

 

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