DÜSSELDORF / Deutsche Oper am Rhein: DER KREIDEKREIS von Alexander von Zemlinsky – Premiere
(1.12. 2024– Werner Häußner)
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Da ist der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf ein Volltreffer gelungen: Die Neuinszenierung von Alexander von Zemlinskys vergessener Oper „Der Kreidekreis“ hat das Zeug zur „Entdeckung des Jahres“.
Warum? Weil Zemlinsky die musikalischen Idiome seiner Zeit ausschöpft und in einen eigenen Stil integriert. Weil David Bösch in seiner Regie auf alles prätentiöse Getue verzichtet und mit wohltuender Reduktion eine packende Parabel erzählt. Und weil Hendrik Vestmann die Düsseldorfer Symphoniker zu farbenschillernden Spitzenleistungen animiert.
Alles stimmt also in dieser Premiere und der hartnäckig herzliche Beifall, der das Fallen der vierten Wand gar nicht akzeptieren will, bestätigt die künstlerischen Ambitionen des Teams und die Wirkung von Zemlinskys letzter vollendeter Oper. Die teilt das Schicksal so mancher ihrer Zeitgenossinnen: 1931 fertiggestellt, sollte „Der Kreidekreis“ im Frühjahr 1933 in Berlin und an drei weiteren Bühnen nacheinander uraufgeführt werden. Dazu kam es wegen der braunen Machtübernahme nicht mehr. Die Uraufführung im Oktober 1933 in Zürich wurde zwar wohlwollend aufgenommen. Doch obwohl „Der Kreidekreis“ für kurze Zeit in einigen deutschen Häusern und sogar 21-mal in Berlin gespielt werden konnte, hatte das Werk auch nach 1945 keine Chance mehr. Es wurde nach einem sang- und klanglos verpufften Versuch in Dortmund 1955 erst 1983 in Hamburg und 2003 in Zürich wieder aufgeführt; jüngste Inszenierungen gab es in Lyon und Karlsruhe.
Zwischen Märchen und Parabel
Das Stück changiert zwischen Märchen, Lehrstück und Parabel, und David Bösch macht von Anfang an klar, dass er im „Kreidekreis“ nicht vorrangig das von Bertolt Brecht im „Kaukasischen Kreidekreis“ ausgearbeitete Sozialdrama sucht. Zu Beginn zieht zu schmeichelnden Saxophonklängen ein riesiges Baby einen Kreis aus Licht. Es hockt am Ende im Zentrum des Runds, wenn die beiden Frauen vor dem Kaiser um das Kind streiten und ihm die Arme unnatürlich lang ziehen.
Hier geht es nicht um einen Säugling – der ruht (ebenfalls als Puppe) in den Armen des Kaisers. Hier geht es um Prinzipielles, um Existenzielles. Patrick Bannwarts schmucklose, düster-märchenhafte Bühne ist im dritten Akt von fünf leuchtenden chinesischen Schriftzeichen dominiert. Sie stehen für Hoffnung, Glück, Frieden, Liebe – und Gerechtigkeit. Denn diese „sei dein höchstes Ziel, denn also lehrt’s des Kreidekreises Spiel“, lautet der letzte Satz des Librettos, das der Komponist selbst nach dem einst erfolgreichen Schauspiel von Alfred Henschke, bekannt unter dem Künstlernamen Klabund, erstellt hat.
In diesem Raum nutzt Bösch die Möglichkeiten seiner Vorlage treffsicher aus. Seine Figuren agieren im Rahmen der Parabel realistisch, wenden sich aber auch ans Publikum. Die Konstellationen auf der Bühne, die von einem dreifachen, leider nur aus den Rängen sichtbaren Kreis bestimmt wird, sind bedeutungsvoll stilisiert. Chinoiserien verkneifen sich Bösch und Bannwart; auch Falko Herold arbeitet in den Kostümen nur mit allgemein gehaltenen Andeutungen.
Musikalischer Zeitstil
Damit stimmt das Team mit der Musik Zemlinskys überein: Sie meidet trotz Pentatonik und exotisch wirkenden Schlaginstrumenten musikalische China-Klischees. Auch die solistischen Passagen der Flöte lassen den fernen Osten höchstens ahnen: Wenn im zweiten Akt die „unteren Bezirke“ – das Totenreich – erwähnt werden, wirken ihre raumgreifenden Intervalle eher wie das Höllengelächter aus Heinrich Marschners „Vampyr“.
Überhaupt, die Musik! Zemlinsky entfernt sich von der üppigen, tonal erweiterten Klanglichkeit der „Florentinischen Tragödie“ oder des „Zwerg“. Trotz eines immensen Perkussionsapparats klingt das Orchester oft kammermusikalisch filigran, aber in den Zwischenspielen darf es aufschäumen. Wenn das mit Engelflügelchen dekorierte Mädchen im Käfig des Teehauses – nichts anderes als ein beschönigtes Freudenetablissement – ihr Lied „Allen Männern zu gefallen bin in Taumel ich und Tand“ singt, wird die zart strahlende Stimme von Elisabeth Freyhoff von einem Banjo begleitet.
Es ist nicht das einzige Mal, dass die Musik an Kurt Weill erinnert, dessen „Mahagonny“-Oper Zemlinsky bei der Berliner Erstaufführung dirigiert hat. Und nicht nur mit den Bezügen zur „Zeitoper“ und zur modernen Operette eines Paul Abraham nimmt Zemlinsky den Sound seiner Gegenwart auf. Da klingt es nach Mahler und Schreker, wohliges spätromantisches Fluten á la Korngold trifft auf eine unverkennbare „Turandot“-Reminiszenz, wenn zum Finale der neue Kaiser auftritt, um Gerechtigkeit zu schaffen. Doch Zemlinsky zitiert nicht und wird nicht eklektisch. Dass die Nachkriegs-Moderne mit dieser Musik nichts anfangen konnte, ist verständlich, aber dass ihre meisterhaften Motiv-Collagen und ihre stilistische Vielfalt bisher so wenig Interesse geweckt haben, leuchtet nicht ein.
Singen, Sprechen, Deklamieren
Vielleicht hat die sehr übersichtliche Rezeptionsgeschichte ihren Grund auch in der formalen Anlage des Werks: Von den Protagonisten wird zwischen Songstil und dramatischem Operngesang auch Sprechen und melodramatisches Deklamieren verlangt. Zuerst stellt sich der Zuhälter Tong – von Falko Herold in eine ausladende schwarze Glitzerrobe gesteckt – als uneindeutiges Zwischenwesen vor: Wie ein zweiter Klingsor freiwillig entmannt, um „zwischen Mann und Weib“ zu stehen, beherrscht er das düstere Reich des Teehauses mit seinen „Blumen“mädchen. Cornel Frey entdeckt an dieser Figur dämonische Züge, aber auch die unappetitlichen Aspekte eines schmierigen Menschenhändlers.
Sein Opfer Tschang-Haitang, 16 Jahre alt, wird nach dem Suizid ihres Vaters, der seine Steuern nicht mehr zahlen konnte, aus purer Not von ihrer Mutter als „Tochter der Freude“ verkauft. Sie wird sexuell missbraucht und an den reichen Mandarin, der ihren Vater in den Tod getrieben hat, als Zweitfrau weiter verscherbelt. Es gelingt ihr, das Herz dieses Herrn Ma zu gewinnen. Aber als sie einen Sohn gebiert und damit zur Erbin des ganzen Reichtums wird, räumt die erste Frau Mas ihren Mann mit Gift beiseite und erklärt sich zur Mutter des Kindes. Haitang hat keine Chance gegen bestochene Richter und Zeugen – aber da befiehlt der neue Kaiser alle Hinrichtungskandidaten und ihre Richter nach Peking, um die Urteile zu überprüfen …
Für diese Figur braucht es eine filigrane Erscheinung und eine Stimme, die mit den Song-Gesten á la Weill, mit lyrischer Empfindsamkeit und mit großen Ausbrüchen gleichermaßen souverän umgehen kann. Lavinia Dames hat es in Düsseldorf geschafft, eine mädchenhafte Gestalt mit der Stimme einer Heroine zu verbinden. Es ist eine Grenzwertpartie für die Sängerin, aber die Intensität ihrer Gestaltung und die Flexibilität im Umgang mit den unterschiedlichen Stilen wiegt die deutlich gestreiften vokalen Limits bei weitem auf.
Beeindruckende Darsteller
Dabei behält sie auch als ohnmächtiges Opfer schamloser Intrigen ihre Würde und zeigt ihren Selbstbehauptungswillen, wenn sich der Kaiser am Schluss als jener Prinz Pao herausstellt, der sich ihr einst im Schlaf genähert hat. Was damals als pikanter erotischer Traum unhinterfragt blieb, wäre heute ein Fall für „me too“: Bösch inszeniert diese Stelle sehr deutlich: Haitang stößt ihren Vergewaltiger zurück; das Happy End im Zeichen der Gerechtigkeit wird fundamental gebrochen. Die Verbindung von Mond und Sonne, der Märchenschluss Zemlinskys, ist nicht mehr denkbar.
David Bösch lässt den Darstellern Raum, die Persönlichkeiten zu entwickeln. Das schafft eindrucksvoll Sarah Ferede als Yü-Pei, Gattin ersten Ranges des Herrn Ma, eine eiskalte Intrigantin, deren perfektes Lügengespinst beinahe aufgegangen wäre. Schneidend und schmeichelnd gibt sie ihrer Rolle vokale Konturen. Katarzyna Kuncio hat im kurzen Auftritt der verhärmten Mutter Haitangs starke Momente; Richard Šveda passt mit seinem grobkörnigen Bariton zum jähzornig aufbegehrenden Charakter des Bruders von Haitang, Tschang-Ling.
Auch die episodischeren Rollen haben ihr Gewicht: Matthias Koziorowski als Gerechtigkeit suchender Prinz Pao, Joachim Goltz als brutaler, später würdevoller Ma, Jorge Espino als willfährig bestechlicher Gerichtssekretär, Romana Noack als vom Geld und der gefährlichen Ausstrahlung Yü-Peis gleichermaßen eingeschüchterte, zur Falschaussage bereite Hebamme. Nicht so gelungen die Auftritte der beiden Kulis (Sander de Jong und Henry Ross), die als shakespearehaft komisches Duo nicht koordiniert genug auftreten. Und Schauspieler Werner Wölbern in seiner roten Richterrobe könnte mit seinem Zynismus als unheimliche Roland-Freisler-Parodie durchgehen, überzieht aber sein Gekeife.
Düsseldorf hat es vorgemacht, wie Zemlinskys Oper dem Vergessen zu entreißen ist: Spannende Regie, konzentrierte Bühne, suggestive Darsteller und die ausgezeichnete Leistung eines aufmerksamen Orchesters mit einem klug disponierenden Dirigenten. Warum eine solche Leistung bisher an keinem der Wiener Opernhäuser möglich war, ist gerade angesichts des seit geraumer Zeit wiedererwachten Interesses an der Musik Zemlinskys, der an der Hof- und der Volksoper dirigierte, schwer erklärbar. Immerhin: Noch ist nicht aller Tage Abend …
Werner Häußner