DRESDEN / Staatsoperette SWEENEY TODD, the Demon Barber of Fleet Street
Ein Musical-Thriller ; 24.2.2024
Brillanter Abend: Bissige Sozialsatire und trashige Horrorkomödie
Fotos: Pawel Sosnowski
Stephen Sondheims Broadway Musical „Sweeney Todd“ geht in Dresden in der Regie von Martin G. Berger in bester Brecht-Manier den Auswüchsen von industrieller Revolution, Konsumgesellschaft und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit an der Schwelle zur Moderne des aufziehenden 20. Jahrhunderts nach. Mit schwefeligem Witz, ätzendem Sarkasmus und einer Riesenportion makabrem Humor. „Eat the Rich“, La Grande Bouffe und Volkskomödiantisches, Berger inszeniert das Musical nicht mit dem politischen Zeigefinger. Er führt uns Menschen in ihrer Verzweiflung, ihrem Begehren und Scheitern vor. Nackte Conditio Humana: Im Leben von Charakterschweinen malträtiert oder vom Pech verfolgt, sind sie so geworden, wie sie sind. Systemverlierer als in der Grube schuftende Tagelöhner, die Assoziationen an Alberichs Bergwerks-Sklaven wecken.
The „great black pit“, der Moloch London, wird von der Bühnenbildnerin Sarah-Katharina Karl als Drecksloch vor einem hohen Metallgitter konkretisiert. Dahinter sehen wir einen sich drehenden Laufsteg rund um das auf der Bühne sitzende Orchester, auf dem sich die paar Privilegierten der Gesellschaft tummeln und räkeln. Leuchtreklamen machen Werbung für bling bling Produkte der Luxusindustrie. Kein Wunder, wenn sich die vom Überfluss Ausgesperrten nach „Überwinden des Zauns“ bei Gelegenheit am reicheren Establishment speigenüsslich schadlos halten. So wie der Barbier, der brutal aus der familiären Idylle gerissen wird.
Diesem Benjamin Barker ist wahrlich übel mitgespielt worden. Richter Turpin wird ihn mittels Unrechtsurteil los, weil er die schöne Lucy, die Frau des Benjamin, haben will. Sexuell missbraucht, schluckt sie Arsen. 15 Jahre sind vergangen. Benjamin alias Sweeney kommt nach London zurück, Tochter Johanna ist vom lüsternen Richter adoptiert. Sweeneys Kumpel Anthony verliebt sich in Johanna, aber der johannestriebige Turpin will sein Mündel selber ehelichen. Sweeney platzt vor lauter Rachefantasien.
Gemeinsam mit der Pastetenbäckerin Mrs. Lovett startet das Duo infernal seinen Rachefeldzug. Fleisch ist rar, also wird nicht Katzenfleisch verwurstet, sondern weil der Richter dank eines blöden Zufalls rechtzeitig dem tödlichen Rasierstuhl entflieht, halt alles, was sich noch so im Friseursalon verirrt. Im köstlichen Dreivierteltakt-Duett „Prälat“ am Ende des ersten Akts gehts dann ans Eingemachte. Wussten Sie, dass die Pasteten-Sorte „Prälat“ gar köstlich schmeckt, weil der geistliche Hacklieferant nichts gewusst hat von fleischlicher Lust, so schmeckt er halt wie Hühnerbrust? Vielleicht nicht so himmlisch wie ein Bischof, aber auch nicht so fad wie ein Kaplan. Da schmoren die Zofen im Ofen, der Musikant spielte fulminant, nur sein Rest ist leider angebrannt. Alles nach dem Motto: Es wird gefressen, wer selber nicht frisst: Denn alle wissen hier, jeder Mensch geht runter mit Bier.
Die höchst anspruchsvolle, rhythmisch komplexe Musik, die an ein geschicktes Amalgam aus Kurt Weill, Shostakovich und Broadway-Dreh erinnert, verbindet eingängige Songs mit instrumentaler Opulenz, getränkt mit bitterem Sarkasmus. Diese schwarze Operette mit nur wenigen gesprochenen Dialogen ist das Gegenteil von sentimentalem Musical-Kitsch. Herb-drastisch mit rescher Tongebung erzählt Sondheim die Geschichte der Außenseiter und ihrer Pendants oben. Seine satirischen Texte nach einem Groschenroman von Hugh Wheeler sind schlichtweg genial. Wie der Fleischwolf des Lebens aus dem Idealisten Todd und seiner lange geschäftlich darbenden Gier-Kumpanin kannibalistische Kapitalisten macht, ist versreimig wortvirtuos-schrullig in Szene gesetzt. Dekadenz auf allen Linien, nur nicht bei den armen Teufeln, die unverändert groschenzählend ihr Dasein fristen.
Klar, dass das neue Geschäft boomt. Die an den Friseursalon angeschlossene Pastetenbäckerei ist mit Nachfrage überhäuft. Lieferando-Boten tummeln sich vor der Tür. Eines Tages kommt es, wie es kommen muss: Alles geht schief und der Showdown beginnt. Der Bäckergehilfe Toby ahnt Böses und wird eingesperrt. Der Gerichtsdiener geht den Beschwerden nach Gestank, der aus der Bäckerei dringt, nach. Das große Morden beginnt. Selbst die Bettlerin springt final über die Klinge. Welch Elend nur, dass Todd am Schluss der Bettlerin, seiner unerkannten eigenen Frau, die ihren Giftselbstmordversuch überlebt hat, die Kehle aufschlitzt.
Fotos: Pawel Sosnowski
Musiziert und agiert wird auf bewundernswertem Niveau. Von der exzellenten Besetzung mit Hinrich Horn (Sweeney), Stefanie Dietrich (Mrs. Lovett), Gero Wendorff (Anthony Hope), Charlotte Watzlawik (Johanna Barker), Riccardo Romeo (Toby), Elmar Andree (Richter Turpin), Dietrich Seydlitz (Büttel), Timo Schabel (Pirelli) und Dimitra Kalaitzi (Bettlerin) möchte ich besonders drei hervorheben: Der rasierklingenscharfe Hinrich Horn gibt mit kernigem Bariton den im wörtlichen Sinne halsabschneidenden Barbier. Die großartige Singschauspielerin mit Berliner Schnauze Stefanie Dietrich verscherbelt als Mrs. Lovett ihre beherzt gewürzten Pastetchen en masse. Was für eine köstliche Darstellerin und Erzkomödiantin! Als dritter im höllischen Bunde ist Riccardo Romeo als Toby zu nennen. Mit seinem exquisit timbrierten lyrischen Tenor bringt er ein wenig die große Welt der Oper mit auf die Bühne. Auch er hat echtes Bühnenblut in den Adern und holt alles aus der Rolle.
Ex aequo ist von einem effektvoll wie klangschön aufspielenden Orchester der Staatsoperette Dresden unter der passionierten musikalischen Leitung von Peter Christian Feigel und von einer grandiosen Chorleistung zu berichten. Wer auf Augenhöhe mit dem berühmten Chor der Berliner Komischen Oper nach einem ebenso spielfreudigen, stilistisch vielseitigen, wie sanglich fitten Vokalensemble Ausschau hält, hier wird er fündig.
Die Produktion und musikalische Umsetzung haben rundum überzeugt. Das zahlreich erschienene Publikum bescherte als Dank für drei Stunden beste Unterhaltung allen Mitwirkenden Ovationen in ungetrübt-lauter Zustimmung.
Dr. Ingobert Waltenberger