Dresden/Semperoper: PREMIERE: „TURANDOT“ VON GIACOMO PUCCINI, IHRES EXOTISCHEN GEWANDES ENTKLEIDET UND IN SCIENCE-FICTION VERLEGT – 7.10.2023
Copyright: Ludwig Olah
Die erste Premiere der Opernsaison 2023/24 brachte fast 100 Jahre nach der ersten Dresdner und damit deutschen Erstaufführung, die bereits für die Saison 2021/22 vorgesehene und wegen Corona verschobene, fünfte Dresdner Neuproduktion von Giacomo Puccinis Opernklassiker „Turandot“ in der Inszenierung der französischen Regisseurin Marie-Eve Signeyrole auf die Bühne. Zu Puccinis letzter Oper hat das Dresdner Opernhaus ein besonderes Verhältnis.
Kurz nach der nur bedingt erfolgreichen Uraufführung an der Mailänder Scala fast anderthalb Jahre nach Puccinis Tod unter Arturo Toscanini wurde das Dramma lirico in drei Akten mit dem Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni nach dem gleichnamigen Theaterstück von Carlo Gozzi, komplettiert nach Puccinis Skizzen und Aufzeichnungen von Franco Alfano, in Dresden mit großem Erfolg, nicht zuletzt wegen der frappierenden Bühnenbilder, aufgeführt und trat danach seinen Siegeszug in die Welt an.
Signeyrole, die mit dieser Inszenierung ihr Dresden-Debüt gab, machte sich zunächst als Filmregisseurin einen Namen und begann gleichzeitig eine Karriere im Theaterbereich, unter anderem mit Janáčeks „Das schlaue Füchslein“ am Opernhaus Montpellier, „La damnation de Faust“ an der Staatsoper Hannover, „Frédégonde“ an der Oper Dortmund, Camille Saint-Saëns „Samson et Dalila“ an der Opéra national du Rhin, Haydns „L’Infedeltà delusa“ an der Bayerischen Staatsoper und jetzt „Turandot“ an der Semperoper, bei der sie die Geschichte, Sage oder Märchen aus dem (ur)alten China in Science-Fiction verlegt – warum eigentlich?.
Puccini suchte oft bewusst Theaterstücke mit interessanten exotischen Orten und besonderem Milieu für seine Opern, um mit einer typischen (mitunter vielleicht auch klischeehaften) Handlung, die durch seine Musik, bezugnehmend auf die speziellen Mentalitäten unterstrichen und veredelt wird, das Publikum zu begeistern. Man denke nur an Japan mit „Madame Butterfly“, Paris mit „La Bohème“, den „Wilden Westen“ mit „La Franciulla des West“ und eben China mit „Turandot“, was bis heute seine Zugkraft nicht verloren hat. Bei „Turandot“ werden sogar öfter chinesische Melodien zitiert. Nimmt man diesen Opern den prickelnden exotischen Handlungsort, nimmt man ihr auch die Brisanz.
Die Regisseurin entkleidete nicht nur die Oper ihres exotischen Gewandes und verortet sie im dystopischen (schlechten) Science-Fiction mit Neonlicht, Gewalt und Blut, bei dem es um das „Überleben der Menschheit“ geht, weil nur Turandot als Einzige noch Kinder zur Welt bringen könnte (ein Zustand der wahrscheinlich nie eintreten wird!) – vielleicht ein interessanter Gedanke, nur hier hat er kaum etwas mit Text und ursprünglicher Handlung zu tun.
Beim Betreten des Zuschauerraumes empfängt den Besucher eine verwirrende Situation aus Geräuschen, Hintergrundmusik, der üblichen Unterhaltung des Publikums, einigen Gestalten auf der Bühne, wie eine auf einem Stuhl sitzende Schweinsfigur, flankiert von zwei schwarzen Gestalten, die gelegentlich ihre Abstände ändern, und der Stimme eines „Moderators“, der die Besucher mit den Worten „Kommen sie in die Arena“ (wie ein bisschen „Carmen“!) zu „Turandot-Spielen“ und eine Art „Ausscheid“ einlädt, bei dem das Publikum mit seinem Ticket abstimmen kann . Dazu wird Schrift eingeblendet, Lichtkegel flackern an den Proszeniumslogen, Scheinwerfer wandern über die Decke des Opernhauses. Zwei digitale Uhren zeigen laufend den Countdown des nahenden Endes der Welt an und bleiben später bei Null stehen – soviel zur „Einstimmung“.
Die Handlung findet auf mehreren Ebenen statt (Bühnenbild: Fabien Teigné), Film- und Video-Elemente (Artis Dzérve, Marie-Eve Signeyrole) werden eingeblendet, Männer mit Fotoapparaten und laufenden Kameras sind allgegenwärtig, um die Ereignisse festzuhalten – alles nicht wirklich neu, weder im Alltagsleben noch auf den Opernbühnen, nur wieder einmal individuell eingesetzt. Vor dem ersten und dritten Akt erklingt bombastische Bühnenmusik, als wäre Puccinis Musik nicht ausdrucksstark genug. Man kann kaum alles gleichzeitig verfolgen. Es ist verwirrend, wenn man alles durchdenken und der Regisseurin folgen will, und kaum – wie angekündigt – die Handlung verdeutlichend.
Die Kostüme (Yashi) unterstreichen die Gruppen, Schichten oder Kasten des brav wie auf einer Tribüne sitzenden und das Geschehen als einheitliche Masse mit immer völlig konformen Bewegungen kommentierenden Volkes (Chor) und bringen in dezenter, ausgewogener Farbigkeit etwas Positives ins Bild. Die jetzt (zu) oft verwendeten Alltagskostüme bleiben auf die unteren Volksschichten beschränkt, die „Höheren“ tragen luxuriöse, glamouröse moderne Kleidung. Als einzige erinnert Turandot vor allem in ihrem zweiten Kleid an äußerliche Pracht und Glanz am Kaiserhof eines alten China.
Schließlich nimmt die Musik mit ihrem exotischen Kolorit gefangen und führt das vielseitige Bühnengeschehen auf den Kern der Oper zurück. Die Sächsische Staatskapelle bildete unter der musikalischen Leitung des kroatischen Dirigenten Ivan Repušić, der das Orchester mit Gespür für die Oper und im richtigen Tempo leitete, ein sehr sicheres, transparentes, klangschönes und sängerfreundliches Fundament, auf dem sich nicht nur, aber vor allem Elisabeth Teige mit ihrer sehr wandlungsfähigen, modulationsfähigen Stimme und Ausdrucksfähigkeit als Titelheldin voll entfalten konnte. Gefühlvoll, mit sanfter Sensibilität erinnerte sie sich an ihre missbrauchte Ahne und mit folgerichtig überbordender Ausdrucksstärke steigerte sie sich in ihre Rache hinein, stets in bewundernswerter Klarheit und trotz aller Leidenschaftlichkeit und Expressivität stets ohne Schärfe in der Stimme.
Von der liebenden Liu, eindrucksvoll gestaltet von Elbenita Kajtazi, die mit sanfter lyrischer Stimme und liebevoller Gestaltung ihre wahren Gefühle bis in den freiwilligen Tod kundtut, erfährt sie, was wahre Liebe und Leidenschaft bedeuten.
Yonghoon Lee kehrte als weltweit gefragter Kalaf-Interpret für diese Rolle an die Semperoper zurück. Mit kraftvoller, fester, sich immer durchsetzender Stimme gab er bereits seinen festen Entschluss, die Rätsel zu lösen, kund und dominierte mit der bekannten Arie „Nessun Dorma“.
Als sein alter, blinder Vater Timur überzeugte Aleksei Kulagin mit warmer, wohlklingender Stimme und plausibler Gestaltung. Bei den drei Ministern, von denen Alessio Arduini (Ping) am ehesten überzeugen konnte, vermisste man vor allem bei Simeon Esper (Pang) und Aaron Pegram (Pong) den hintergründigen, verschmitzten Witz. Ein schwacher König Altoum und „Sohn des Himmels“ war Jürgen Müller, der in seinem dunkelroten Samt-“Wams“ ganz hinten am Stehpult, die Gesetzte kundtat, die am allerwenigsten Turandot ernst nahm.
Der sich dezent anpassende und dennoch sehr gut vernehmbare Sächsische Staatsopernchor und Sinfoniechor (beide: André Kellinghaus) und der Kinderchor der Semperoper (Claudia Sebastian-Bertsch) kommentierten exakt und sehr klangschön die Handlung und trugen damit ihren Teil zu dem in vieler Hinsicht musikalischen Highlight bei.
Ingrid Gerk