Dresden / Semperoper: SAISONAUFTAKT BEI DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT DEM GMJO, CHRISTIAN GERHAHER, ANJA KAMPE UND CHRISTIAN THIELEMANN – 29.8. – 1.9.2020
Infolge der Corona-Krise, die immer noch einschneidende Zugeständnisse und Veränderungen – auch im Konzertleben – fordert, halten Semperoper und Sächsische Staatskapelle an ihrem bewährten Konzept der 90minütigen Veranstaltungen ohne Pause mit den geforderten Abständen auf der Bühne und im Publikum fest. Der Erfolg gibt ihnen Recht.
In der gegenwärtigen Programmreihe „VARIATION“ werden die Konzerte, die in ihrer geplanten Programmgestaltung abgesagt werden mussten, nun als „VARIATION“ davon geboten, kein „Ersatz“, sondern eine eigenständige, neue Programmgestaltung, die vom Publikum dankbar, mit begeistertem Begrüßungs- und Schlussapplaus angenommen wird. Corona – ein „Tema con variazioni“. Man beschränkt sich auf das in guter Qualität Machbare, keine großen Opern-Arien mit nur Klavierbegleitung, sondern Originalkompositionen für kleinere Besetzungen und Kammerorchesterfassungen vom Komponisten selbst oder namhaften Kollegen. Einziger Nachteil: es kommen weniger Besucher in den Genuss dieser ansprechenden, fast intimen Konzerte mit ihren Besonderheiten, selten aufgeführten Werken und interessanten Fassungen – keine Improvisation, sondern hochkarätige Musikerlebnisse.
„VARIATION“ 1: das traditionelle ERÖFFNUNGSKONZERT am Saisonbeginn (29.8.) mit dem Gustav Mahler Jugendorchester (GMJO), das seit 2008 jährlich die Konzertsaison eröffnet und in diesem Jahr gemeinsam mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, seinem Partnerorchester seit 2012, den Bogen zum letzten gemeinsamen Projekt vor der Sommerpause, den „Gurre-Liedern“ von Arnold Schönberg, schlug. Am Pult dieses Partnerschaftskonzertes gab der britische Dirigent Duncan Ward sein Kapell-Debüt, das schon für den abgesagten 3. Aufführungsabend der Staatskapelle in der vergangenen Saison vorgesehen war.
Das Konzert brachte eine Begegnung mit dem Liederzyklus „Elegie“ von Othmar Schoeck, der obwohl seine Musikdramen bekannter sind, mit seinen insgesamt 376 Orchester- und Klavierliedern als einer der bedeutendsten Liedkomponisten des 20. Jahrhunderts gilt. In den zwischen seinen großen Musikdramen „Venus“ und „Penthesilea“ geschriebenen 24 ideen- und farbenreichen „Elegie“-Liedern um Liebe, Glück, Entsagen und Wehmut als Verarbeitung seiner persönlichen Erlebnisse einer „sterbenden Liebe“ nach Gedichten von Joseph von Eichendorff und Nikolaus Lenau bringt er seine Vorliebe für die Lyrik des 19. Jahrhunderts in spätromantisch anmutenden, teils beschaulichen, teils dramatischen Naturschilderungen und Stimmungen in der, die Singstimme untermalenden und ergänzenden, Orchesterbegleitung zum Ausdruck.
Das sehr klar und durchsichtig, klangschön und einfühlsam muszierende Orchester in mittlerer Stärke aus GMJO und Staatskapelle fing unter der Leitung von Duncan Ward mit hinreißend schönen Klängen, entsprechend dem Inhalt und Charakter der Lieder, den romantischen Naturzauber ein und flammte mit dramatischer Power im „Waldlied“ bei Gewitter und Sturm auf. Die sehr sauberen und klangschönen Bläser und der feinsinnige Streicherklang trugen sehr zu der eindrucksvollen Aufführung bei. Ward folgte in erfreulicher Weise nicht dem gegenwärtigen Trend der starken (nicht immer sinnvollen) Kontraste zwischen Lautstärke und kaum hörbarem Pianissimo. Er ließ die Musik mit ihren sensiblen Stimmungen und menschlichen Empfindungen in melancholischer Grundstimmung für sich sprechen.
Mit seinen geschmeidigen Bewegungen strahlte er souveräne Ruhe und Verständnis für die Gefühlstiefe der Lieder aus, ließ dem Sänger entsprechend Raum zur Gestaltung und bildete mit dem Orchester ein eindrucksvolles Pendant zur sensiblen, lyrischen Bariton-Stimme von Christian Gerhaher, der über ausgezeichnete Intonationssicherheit und eine Ausdrucksskala von behutsamem Piano und fast nur noch gehauchtem Pianissimo bis zum dramatischen Forte und Fortissimo verfügt. Ausgefeilt bis ins Detail, verlor er sich nicht darin, sondern wahrte eine gewisse innere Distanz. Er sang die Lieder unpathetisch, auch wo der Schmerz die Gelassenheit überwog. Leider waren die Worte, die bei Schoeck in besonderem Maße die Grundlage zum Verständnis der Musik bilden, in dem für Lieder relativ großen Opernraum nur bei Mitverfolgen der abgedruckten Texte verständlich. Die durchgängige, weltentsagende Grundstimmung der Lieder könnte leicht zu einem gewissen Gleichmaß führen, aber immer wieder wehten romantisch-schöne Klänge wie ein leichter Trost und behutsamer Optimismus durch das Orchester. Dennoch blieb auch Betroffenheit, so dass der Applaus am Ende erst nach atemloser Stille losbrach.
Mit sehr viel musikalischem Verständnis gestaltete Ward auch Franz Schuberts heitere „Symphonie Nr. 5 B‑Dur (D 485) aus dem Jahr 1816, die mit ihrer Lebenskraft und Urmusikalität immer noch und immer wieder auch die Jugend begeistert. Ward legte viel Wert auf guten Klang und maßvolles Temperament. Nicht mit extremen Tempi und Vehemenz, sondern mit Klangqualität, angemessenen Steigerungen und vor allem Unbeschwertheit und Frische gestaltete er die sehr ansprechende Wiedergabe.
„VARIATION“ 2: Im 1. SYMPHONIEKONZERT der Staatskapelle (30.9.) konzentrierte sich Christian Thielemann mit dem Orchester anstelle der ursprünglich vorgesehenen, großen Tondichtungen von Richard Strauss auf die kleineren, nicht weniger genialen Werke des Meisters und die “Wesendonck-Lieder“ von Richard Wagner, den Strauss bewunderte. Mit „Ouvertüre und Tanzszene“ aus „Ariadne auf Naxos“ (op. 60), bearbeitet für kleines Orchester, wurde der Abend sehr fröhlich eröffnet, denn mit bestechend guten Bläsern und gekonnt durchsichtiger Musizierweise gelang es, den vorweggenommenen Inhalt der Oper in bewundernswerter Weise plastisch erstehen zu lassen und die Rolle der Zerbinetta ausgesprochen beschwingt und wirklich heiter, mit einer kleinen Prise Derbheit – typisch Strauss – fast lautmalerisch herauszuarbeiten.
Im „Duett-Concertino“ für Klarinette und Fagott mit Streichorchester und Harfe (TrV 293) brillierten die beiden Solisten der Staatskapelle, Wolfram Große, Klarinette, und Philipp Zeller, Fagott, mit bravourösen Leistungen und klanglicher Raffinesse und ließen auch Strauss‘ typischen Schalk durchblitzen, einvernehmlich begleitet von ihren Kapell-Kollegen.
Mit „Fünf Gedichten für eine Frauenstimme (WWV 91), den „Wesendonck-Liedern“, von Richard Wagner bot Anja Kampe eine weitere Facette der Interpretationsmöglichkeiten dieser für Wagner ungewöhnlich intimen Lieder, die er im „Tristan“ verarbeitete. Sie betonte die „weibliche“ Seite der von einer sensiblen Frau verfassten Gedichte durch feine Abstufungen, „zelebrierte“ die Lieder mitunter mit zarter, sanfter Leidenschaft, aber auch expressiv und „wagnergemäß“ und gab ihnen ein individuelles Gesicht, eingebettet in die Begleitung durch die Vertreter der Staatskapelle, die sich mit äußerster Feinheit der bis heute bekanntesten Orchesterfassung von Felix Mottl widmeten, die der Komponist und Dirigent 10 Jahre nach Wagners Tod auf der Grundlage von dessen Klavierfassung verfasste.
Es war ein Miteinander auf gleicher Wellenlänge, eine großartige Wiedergabe, bei der auch die Nähe zu „Tristan du Isolde“ immer wieder unverkennbar aufblitzte und die verhalten im Pianissimo mit stummer Geste Thielemanns endete – eine Einstimmung auf die „Metamorphosen. Studie für 23 Solostreicher“ (Tr 290) , in denen Richard Strauss, in „verzweifelter Stimmung“ seiner Trauer um die zerstörte Kultur, das Goethehaus in Frankfurt und die in Trümmern liegenden Opernhäuser in Wien, Dresden, Weimar und München am Ende des Zweiten Weltkrieges Ausdruck verlieh. Diesem ausweglosen gefühlsmäßigen Suchen, diesen genialen Harmonien verhaltener Verzweiflung und letztendlich auch Schönheit in Trauer spürten die Streicher der Staatskapelle unter Thielemanns Leitung mit wunderbarer Durchsichtigkeit, kongenialem Zusammenklang und beeindruckenden solistischen Solopassagen (Reinhard Kraus, Thomas Meinung, Violinen) nach – trotz Trauer und scheinbarer Ausweglosigkeit eine tröstende Schönheit in der Musik.
Die geplante „VARIATION“ 3, eine Variante des 1 Symphoniekonzertes mit Liedern von Richard Strauss (1.9.), musste Anja Harteros leider wegen Krankheit absagen, so dass noch einmal das Programm mit Anja Kampe wiederholt wurde.
Ingrid Gerk