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DRESDEN/ Semperoper: „PEER GYNT“ – Ballett von Johan Inger

05.07.2022 | Ballett/Tanz

Dresden / Semperoper: „PEER GYNT“ – BALLETT VON JOHAN INGER –  4.7.2022

„Peer Gynt“, ein Ballett in zwei Akten von Johan Inger, hatte am 5.6.2022 an der Semperoper Premiere. Jetzt lief die 7. Vorstellung. Das Publikum betrat wie üblich den Zuschauerraum. Durch die erste Tür im Parkett kommen ebenfalls Leute (Statisten) und werden von einer Art Platzanweiserin über eine „Brücke“ mit Geländer über den Orchestergraben auf eine Guckkastenbühne innerhalb der großen Bühne „gelotst“. Dort sitzen wesentlich mehr „Zuschauer“ pro Quadratmeter als im Parkett. Die einen Zuschauer sehen die anderen „Zuschauer“ an.

Beide starren erwartungsvoll auf die Bühne, was da kommt: ein großes altmodisches eisernes Bett, in dem Peer Gynt liegt bzw. aufbegehrt und seiner strengen, ganz in schwarz gehüllten, mannhaften Mutter Aase (Casey Duzounis), die wie der Teufel nach der Seele hinter ihm her ist und wie eine Witzfigur für Heiterkeit sorgt, der Enge des Dorfes, dargestellt durch ein typisches skandinavisches Häuschen, das die Klischeevorstellung vom Leben im „hohen Norden“ Europas bedient, und allen Zwängen entfliehen will. Er sehnt sich nach Freiheit und Abenteuer. Ihn bewegen „Wünsche, Lüste und Begehr“.

Das war es auch, was Johan Inger bei der Lektüre von Henrik Ibsens dramatischem Gedicht, das dieser später zu einem Drama umarbeitete und Edvard Grieg um eine Schauspielmusik dazu bat, zu seinem Ballett anregte. Er sah in der Gestalt des Peer Gynt Parallelen zu seinem eigenen Leben als Tänzer und Choreograf auf der Suche nach dem „wahren Ich“, dem Kern des Künstlers, seiner Fantasie und Kreativität. Er wollte die Konventionen des klassischen Balletts sprengen, was ihm mit diesem Handlungsballett individueller Prägung auch gelungen ist.

Die alte und immer wieder neue Geschichte vom Ausbrechen aus dem strengen, behüteten aber auch einengenden Leben im Hause der Kindheit und Jugend, Sehnsucht und Aufbruch in die Welt voller Abenteuer, Erfolge und Rückschläge, Freud und Leid, bis sich der Kreis im Alter beim Zurückfinden in heimischen Gefilden – oder auch nur Gedanken daran – schließt, hat in der Kunstwelt viele Varianten und Bearbeitungen erlebt. Inger sieht es mit Distanz und Humor und auch Sarkasmus, von kurios bis grotesk.

Irgendwann sitzen dann die „Zuschauer“ auf der Bühne im Dunkeln, bis sie schließlich ganz verschwinden, das echte Publikum bleibt.

Solveig (Stefanie Knorr als Gast) ist Gynt als Einzige aus dem heimatlichen Dorf nahe, doch er entführt in seinem jugendlichen Überschwang erst einmal Ingrid, die Braut (Svetlana Gieleva), die aus einem winzigen Biedermeierzimmer stammt und ihren Bräutigam (Václav Lamparter) nicht mag.

Solveig singt später ihr berühmtes Lied mehrfach während des Abends in verschiedenen Facetten, direkt oder leise wie aus der Ferne in Gynts Erinnerung, manchmal auch nur bruchstückhaft oder wie ein „Weckruf“ aus der fernen heimeligen Welt, einer leichten, sehr kleinen, engen „Hütte“, die Peer aus – vom Baumarkt angelieferten – Brettern „zimmert“.

Dekorationsmäßig ist ständig etwas los auf der Bühne (Bühnenbild mit EstudiodeDos: Curt Allen Wilmer, Leticia Gañán). Es gibt immer wieder Überraschungsmomente, immer wieder werden neue Requisiten hereingefahren, getragen oder geschoben, mit Winterwald bemalte und andere „Wände“, einzelne Möbel und vieles andere mehr. Schnee und später Flitter rieseln von oben. Zuweilen zieht ein*e, gerade nicht Beschäftigte*r an einem, an der Bühnenseite befestigten Glöckchen, das schrill und scheppernd Schnitt und Szenenwechsel am Ende eines Bildes einläutet. Die gesamte Handlung ist mit immer neuen, witzigen Einfällen, Überraschungsmomenten, ironischen Anspielungen und oft grotesken Szenen aufgebaut. Gewalt darf natürlich auch nicht fehlen.

Ingers spezielle Choreografie mit ihren kuriosen Schrittfolgen, Figuren und Kombinationen, die in variierter Form immer wieder erscheinen, kann viel ausdrücken und verlangt den Tänzer*innen des Semperoper Ballett einiges ab, denn sie müssen dazu auch noch  unartikulierte, gurrende, girrende oder glucksende Laute ausstoßen, um ihr Tun „beredt“ zu unterstreichen .

Es gibt scheinbare Spiegelungen, um Gynts Verwirrung auszudrücken, hohe Sprünge und „sportliche“ Leistungen. Gynt lernt die Welt und das Leben in allen Facetten, auch das Leben in einer Ballettcompanie kennen, wie das Vortanzen sehr unterschiedlicher  Bewerberinnen von klassisch, gewollt und nicht gekonnt, bis sportlich mit hohen Sprüngen und Luft-Spagat (Jenny Ladadio, Nastazia Philippou, Courtney Richardson, die auch die Anitra tanzt). Am Ende liegt Gynt alt und grau im Biedermeier-Zimmerchen, dann in Solveigs Armen und schließlich findet er in sein kleines Dorfhäuschen und in den Schoß seiner ursprünglich gehassten Mutter zurück.

Die Musik Griegs wurde neu zusammengestellt und mit Halling (Hardingfidel), zwischen den Szenen von einem Musiker (Raimund Eckertz) solo auf der Bühne gespielt, anderen Kompositionen Griegs, P. I. Tschaikowskys “Schneeflockenwalzer“ aus „Der Nussknacker“ und „Entr’acte IV“ aus George Bizets „Carmen“ „bereichert“, so dass ein abendfüllendes Handlungsballett herauskam. Die musikalische Leitung der Sächsischen Staatskapelle Dresden lag in den zuverlässigen Händen von Thomas Herzog. Es sangen der Sinfoniechor Dresden und der Extrachor der Semperoper (Jonathan Becker)

 Insgesamt ist ein riesiges Team beschäftigt, das beim Schlussapplaus die ganze Bühne füllt und sich mit gekonnten tänzerischen Leistungen sehen lassen kann, darunter Francesco Pio Ricci, der als Trollkönig/Mats Ek Peer Gynt/Johan Inger in entscheidenden Momenten an Lebensweisheiten erinnert und ihn verstandesmäßig wieder auf die richtige Bahn bringt, Rebecca Haw als Mutter der Braut und Gareth Haw als Vater des Bräutigams, Zarina Stahnke als, in Rot gekleidete, Grüne (Alltagskostüme: Catherine Voeffray), die Gynt immer wieder ihr/sein Baby präsentiert, Jón Vallejo als der Krumme und Joseph Gray als Aslak sowie die tanzenden und die singende Milchmädchen. Sie alle sorgten mit gekonnten tänzerischen Leistungen für einen vergnüglichen, kurzweiligen Abend mit Hintersinn.

Ingrid Gerk

 

 

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