Dresden/Semperoper: „PALMSONNTAGSKONZERT“ (8. SYMPHONIEKONZERT) DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT DIRIGENTEN-LEGENDE HERBERT BLOMSTEDT – 2.4.2023
Herbert Blomstedt. Foto: Matthias Creutziger
Es ist ein Phänomen, wie Herbert Blomstedt, fast 96jährig nicht nur immer wieder in geistiger Frische zum Dirigentenpult eilt, sondern vor allem, die Werke, die er leitet, geistig durchdringt und in ungebrochener Frische interpretiert. Zwar lässt er sich jetzt beim Gehen begleiten und lehnt auch den Dirigentenstuhl nicht mehr kategorisch ab, aber mit sparsamer, instruktiver Zeichengebung inspiriert er die Musiker immer noch und immer wieder zu großartigen Leistungen. Mitunter genügt da auch nur ein Blick, und offenbar manchmal auch schon seine Anwesenheit. Das enge freundschaftliche Verhältnis zwischen der Sächsischen Staatskapelle und ihrem Ehrendirigenten (dem zweiten nach Colin Davis) währt nunmehr seit einem halben Jahrhundert, das Publikum eingeschlossen.
Nach seinem „Einstand“ 1969 prägte Blomstedt das Orchester als Chefdirigent von 1975 bis 1985, ein besonderes Kapitel in der langen Kapellgeschichte, ein Jahrzehnt, das künstlerisch und menschlich unvergessen ist. Er leitete eine Reihe von Opernproduktionen, damals noch im Großen Haus der Staatstheater (Schauspielhaus) und bis heute über 300 Konzerte, darunter das erste Konzert in der wiederaufgebauten Semperoper und zehn Mal das traditionsreiche „Palmsonntagskonzert“. Neben den Dresdner „Hausgöttern“ Wagner und Strauss widmete er sich mit gleicher Intensität einem umfangreichen Repertoire vom barocken Kapell-Erbe über Klassik und Romantik bis zu zahlreichen Ur- und Erstaufführungen.
Beim diesjährigen „Palmsonntagskonzert“ hatte er sich für zwei sehr anspruchsvolle, kräftezehrende Werke, die ganzen Einsatz erfordern, entschieden, die besonders gut zum Palmsonntag passende „Psalmensymphonie“ von Igor Strawinsky und die „Symphonie Nr. 6 A‑Dur“ (WAB 106) von Anton Bruckner.
Igor Strawinsky schrieb seine dreisätzige „Psalmensymphonie“, eines der bedeutendsten geistlichen Musikwerke des 20. Jahrhunderts, ein imposantes Werk mit bei ihm ungewohnt ernstem Ausdruck, dessen musikalische Kraft ihresgleichen sucht, 1930 (überarbeitet 1948), in einer Zeit, in der er sich auch auf traditionelle barocke und klassische Formen besann, was unter anderem im zweiten Satz dieser (freien) Vertonung des 38., 39. und 150. Psalms des Alten Testamentes in einer Doppelfuge zum Ausdruck kommt.
Mit kleinen, gezielten Gesten hielt Blomstedt den Aufführungsapparat mit dem Sächsischen Staatsopernchor Dresden (Einstudierung: André Kellinghaus) und der Sächsischen Staatskapelle in ungewöhnlicher Besetzung mit nur tiefen Streichern, größerer Holz- und Blechbläserbesetzung, Schlaginstrumenten, zwei Klavieren und zwei Harfen, die dem Werk seinen unverwechselbaren Klang verliehen, zusammen und setzte seine klaren Vorstellungen von der „Psalmensymphonie“ mit ihren typischen rhythmischen Mustern, kraftvollen Motiven und langen Gesangslinien kongenial um.
Im gut abgestimmten Zusammenwirken von sehr exakt und differenziert singendem Chor und dem ungewöhnlichen Orchester mit, sanftem Streicherklang, wunderbaren Bläsern – unter anderem Oboe und Flöte in ihrem harmonischen „Zwiegesang“ – und zuverlässigen Pianisten und Schlagzeugern wurden die gebannt lauschenden Zuhörer hineingezogen in die suggestive Kraft des kontrastreichen Wechsels von ruhigen und aufregenden Passagen bis hin zum hymnischen Lobgesang als stille Verehrung und äußerlich prachtvolle Lobpreisung Gottes und nach reichlich 20 Minuten fasziniert zurückgelassen.
Eine aufrichtige Gottesverehrung durchzieht auch das Schaffen von Anton Bruckner. Er schrieb seine „Sechste“ in den Jahren 1879 und 1881. Sie galt lange Zeit (wie auch die „Zweite“) als „Stiefkind“ unter seinen Sinfonien, was sich im Laufe der Zeit positiv gewandelt hat. Jetzt gehört sie zum festen Bestandteil des Repertoires. Bruckner selbst bezeichnete sie launig als seine „keckste“ Symphonie, hat sie jedoch zu seinen Lebzeiten nur einmal in einer Probe vollständig gehört. Zur Aufführung kamen dann nur der zweite und dritte Satz. Erst nach einigen Umarbeitungen, unter anderem von Gustav Mahler, wird sie jetzt wieder in Originalfassung aufgeführt.
Anders als Christian Thielemann, dessen intensive Interpretationen der Bruckner-Symphonien noch in Erinnerung sind, betonte Blomstedt auch die in dieser Symphonie reichlich enthaltenen Schönheiten, die lyrisch-melodischen Seiten und klangschwelgerischen Passagen, insbesondere im „Adagio“, was dem Wesen der Musik Bruckners und seiner pantheistischen Euphorie sehr entgegenkommt. Schon die von Bruckner gewählte Tonart A‑Dur, verleiht der Symphonie zuweilen eine helle Klangfarbe und dem ersten Satz festlichen Glanz. In wunderbarer Transparenz, Klangschönheit und Vitalität, aber auch mit einem Hauch Melancholie breitete Blomstedt den Klangreichtum dieser Symphonie aus. Die Musiker folgten ihm mit der ihnen eigenen Präzision, Klangsinn und Leistungswillen bis zum hymnisch überhöhten, sich immer mehr steigernden Finale, was beim Publikum große Begeisterung auslöste.
Blomstedts beglückende und berührende Interpretation wurde enthusiastisch und auch mit Dankbarkeit gefeiert. Man ist nach jedem Konzert mit ihm froh und glücklich, ihn wieder einmal mehr erlebt zu haben. Er war schon immer sehr beliebt, jetzt ist er zur Legende geworden, und seine reifen Interpretationen zu einen Anziehungspunkt ohnegleichen.
Ingrid Gerk