Dresden / Semperoper: „OTELLO“ – HOCHDRAMATISCH – UNTER CHRISTIAN THIELEMANN – 23.2.2017 Premiere
Christian Thielemann, dessen großartige Aufführungen von „Lohengrin“, „Tristan und Isolde„, „Walküre“, „Rheingold“ und „Siegfried“ an der Semperoper Maßstäbe gesetzt haben und noch in bester Erinnerung sind, leitet(e) nun die Premiere und 3 weitere Vorstellungen (26.2., 1.3., 5.3.) von Giuseppe Verdis „Otello“, eine Koproduktion mit den Salzburger Osterfestspielen 2016. Später übernimmt John Fiore die musikalische Leitung.
Stephen Gould, Dorothea Röschmann. Copyright: Karl Forster/ Semperoper
Wie erwartet, stand mit Christian Thielemann am Pult die psychologisch und emotional durchdrungene Wiedergabe der Musik im Vordergrund. Er führte die leistungsstarken Gesangssolisten und die ausdrucksstarke, zu allen Nuancen fähige Sächsische Staatskapelle Dresden in einem kongenialen Zusammenwirken bis an die dramatischen Grenzen, um Musik und Handlung in ihren emotionalen, philosophischen und psychodramatischen Zusammenhängen auszuloten und ungeahnte, kaum je so wahrgenommene Details plötzlich hör- und erlebbar zu machen. Es war aufregend, hochdramatisch bis an die Grenze des Empfindens, aber es gab auch sehr feinsinnige Passagen, wie die gefühlvollen, innigen Streicher.
Manchmal meinte man (im 3. Akt) Wagner durchschimmern zu hören, was unseren Hörgewohnheiten scheinbar widerspricht, aber doch nicht so ganz abwegig ist. Arrigo Boito, der Librettist der Oper, war (1871), als er noch nicht mit Verdi zusammenarbeitete, nach dem Besuch einer „Lohengrin„-Aufführung in Bologna, der ersten Aufführung einer Wagner-Oper in Italien, zu der auch Verdi (inkognito) angereist war, auf der Rückreise um 3 Uhr nachts auf dem Bahnhof mit Verdi zusammengetroffen, der hinterher an seinen Verleger schrieb, dass ihn das alles „anekle“ und er nicht „lohengriniert“ werden wolle. Sollte aber Wagners kompositorischer Stil nicht doch seinen Niederschlag in seinem „Dramma lirico in vier Akten“ nach William Shakespeares Drama „Othello“ gefunden haben? Ähnliches fiel vor vielen Jahren auch schon bei einem Dirigat von Peter Scheider in der Semperoper auf. In Verdis „Lohengrin“-Partitur, die er nach Bologna mitnahm, steht jedenfalls: „Die Musik ist schön!“
Von Boitos einziger vollendeter und aufgeführter Oper „Mefistofele“ nach Goethes Faust I und II kehrt möglicherweise einiges als Parallele oder Rudiment in der Gestalt des Iago wieder, der sich in seinem „Credo“ (2. Akt) zu Gottlosigkeit und Anarchie, Bosheit, Intrige und Vernichtung bekennt. Er kennt keinen Glauben, bewegt sich außerhalb moralischer Verpflichtungen und Grenzen. In der gesellschaftlichen Hierarchie war er „ganz unten“, hat das Leben in all seiner Grausamkeit, seinen Schwierigkeiten, Problemen und Abgründen kennengelernt. Nach Otellos Sieg ist er enttäuscht und gekränkt, weil er nicht die erhoffte Beförderung erhält und sinnt auf Rache – tödliche Rache – für Cassio, seinen Konkurrenten, aber vor allem für Otello, den „Verursacher“ seiner Zurücksetzung.
Regisseur Vincent Boussard sieht es in seiner Inszenierung anders. Für ihn ist es „das Anbrechen einer neuen Zeit“, der Gedanke des Zerfalls einer alten Welt, eine „Schnittstelle“, an der sich „ein Spannungsfeld großer Widersprüche“ und damit verbundener menschlicher Einzelschicksale aufbaut, was allerdings in seiner Inszenierung nur bedingt offenkundig wird.
Für ihn ist Otello, der siegreiche farbige Feldherr mit seinem Ehrgefühl, der Repräsentant der alten abendländischen Welt mit ihrer Kultur, befangen und verfangen in den Konventionen der bisherigen, wohlgeordneten Gesellschaft und ihren ungeschriebenen Gesetzen des menschlichen Verhaltens auf der Grundlage christlichen Glaubens, den er für eine gesellschaftliche Anerkennung angenommen hat und auch durch die erzwungene Heirat mit Desdemona, der Tochter eines wohlhabenden Venezianers, die sein Schicksal rührte, erhofft. Obwohl er nach seinem Sieg gefeiert wird, leidet er im Inneren unter seiner Nichtverortung in der Gesellschaft, seiner sozialen Herkunft als Sklave, was ihn für Iagos Intrige anfällig macht.
Sein Fähnrich und Gegenspieler Iago nutzt Otellos Gutgläubigkeit im doppelten Sinne des Wortes, sein unbändiges Temperament, seine emotionale Leidenschaft aus und schürt seine unbegründete, unbeherrschte Eifersucht, mit der er in eine „Abwärtsspirale“ gerät, aus der er nicht mehr herausfindet. Sollte Iago, der als Inkarnation des Bösen keinen Skrupel kennt, mit seinem Hass, seiner Hinterhältigkeit und Verrat wirklich der Vertreter einer „neuen Welt“, der Beginn einer neuen Zeit sein? – Möglich, wenn man gewisse gegenwärtige Praktiken betrachtet, aber nicht erstrebenswert! „Muss die alte Welt der Neuen weichen, die sie hinterrücks vernichtet?“
Als Einstimmung und Vorgeschichte „im Zeitraffer“ treffen bei den ersten Takten in einer sehr kurzen, stummen Szene „schwarz und weiß“, hell und dunkel als der dunkel gekleidete, temperament- und emotionsgeladene Otello und die sanfte, unschuldige, wie eine Lichtgestalt in weiß gehüllte, Desdemona aufeinander.
In dem Moment, wo sie sich liebend in die Arme schließen, brechen mit dynamischer Lautstärke im Orchester und auf der Bühne mit, bis in den Zuschauerraum wehenden, durchsichtigen Vorhängen und verschwommenen Videoeinblendungen im Hintergrund (Isabel Robson) Gewitter und Sturm mit gewaltigen Meereswogen herein, während im Vordergrund der Sächsische Staatsopernchor Dresden (Einstudierung: Jörn Hinnerk Andresen) in höchster Dramatik und extremer Lautstärke die Seeschlacht mit Todesnähe und Todesangst während und nach diesem entsetzlichen Gewitter kommentiert, in der Otello als Feldherr im Dienst der Republik Venedig die angreifenden Osmanen von der, im 16. Jh. von Venedig beherrschten, Insel Zypern vernichtend zurückschlägt, dem Tod nur knapp entrinnt und durch Schiffbruch gerettet wird.
Dann wird es düster, die Bühne in „ewiges Dunkel“ gehüllt, d. h. von grau bis schwarz, um die Handlung auf sehr abstrakte Weise, aber eindeutig und unmittelbar in ihren psychologischen Zusammenhängen zu „illustrieren“. Boussard arbeitet mit Flächen, psychologisch durchdrungen und durchdacht. Die äußere Handlung rückt in den Hintergrund. Es werden Seelenzustände erforscht und schicksalhafte Zwänge betont, was jedoch durch die starke Abstraktion der Oper auch einiges von ihrer ursprünglichen Brisanz und emotionalen Erschütterung nimmt. Während in anderen (vor allem älteren) Inszenierungen die Handlung eher aus der Sicht Desdemonas aufgerollt wird, ist es hier Iago, der „die Fäden spinnt“.
Die Aktionsfläche ist meist auf einen schmalen „Laufsteg“ mit diversen Wänden und bei Bedarf auch „Guckkastenbühne“ für Desdemonas Schlafgemach reduziert (Bühnenbild: Vincent Lemaire). Die, für die große und vor allem breite Bühne des großen Salzburger Festspielhauses konzipierten, Bühnenbilder mussten für die Semperoper angepasst werden. Ein schmaler, hoher Durchgang (Tür) wie in einem, zurzeit gerade modernen Wohnhaus-Neubau, durch den der Ministranten-Kinderchor (Einstudierung: Claudia Sebastian), gelegentlich auch Otello oder Desdemona kommen – die anderen Akteure kommen zuweilen aus dem dunklen Hintergrund bzw. verschwinden in diesen auch wieder – lockert das archaisch-spartanische Bühnenbild auf. Ein langer, abstrakter Tisch (Tafel), auf dem Cassio betrunken tanzt und der später mit übermäßig vielen Kerzen bestückt wird (von denen gelegentlich einige herunterfallen), und ein einziger Stuhl (!), auf den eigentlich auch hätte verzichtet werden können (die Zeit der Stühle dürfte nun inszenatorisch endlich vorbei sein) sind die wenigen Requisiten, ergänzt durch Spiegel, wie sie zurzeit „in“ sind.
Das bewusste (Taschen-)Tuch flattert je nach subjektiver Wahrnehmung der Beteiligten und Bedeutung für den Fortgang der Handlung per Video in unterschiedlichen Größen durch die Inszenierung. Geschickte Lichteffekte (Guido Levi) verleihen dem Bühnenbild Dynamik.
Christian Lacroix scheint mit seinem „Kostüm-Mix“, aus gegenwärtiger, ewig grauer Alltagskleidung, abgesehen vom unschuldig weißen Kleid der Desdemona, und den farbigen Kostümen für den Chor konträr zu Boussards Sicht zu liegen. Otello erscheint in legerer „Freizeit“-Kleidung, während Iago im „feinen Zwirn“, im eleganten Gehrock mit Pelzkragen und hellem Seidenfutter, Weste, Krawatte und weißem Hemd, dem heutigen „Inbegriff des Konservatismus“, „prunkt“. Soll er vorwegnehmend schon einer der „Neureichen“ einer „neuen“ Zeit sein? Oder siegen bei Lacroix am Ende doch die guten alten Werte, symbolisch durch die historisierenden Kostüme im Stil der Renaissance, in denen der Chor am Schluss zur erschütternden Situation Stellung nimmt?
Ein Todesengel (Sofia Pintzou), in seiner äußeren Erscheinung offenbar einem Grabmal des 19. Jh. entlehnt, begleitet die Handlung, bis er sich selbst verbrennt. Am Ende ist er aber wieder da, um erst Desdemona, nachdem sie von Otello „erwürgt“ wurde, danach wieder aufsteht, weitersingt und zu Fuß zur Tür hinaus dem Todesengel folgt, ins Jenseits (?) zu führen und danach Otello, der sich „selbst richtet“ indem er sich nicht ins Schwert stürzt, die Hand zu reichen und von ihm getötet zu werden.
Bei Shakespeare wird Jago am Ende verfolgt und gehängt, Boito und Verdi lassen ihn ungesühnt entkommen. Das Böse bleibt in der Welt. (Nebenbei: In der Jetztzeit könnte kein Gericht Iago entsprechend verurteilen, da seine Schuld moralischer Art ist und in kein Gesetz passt).
Für die drei Hauptakteure, die vor allem im 3. Akt, abgesehen vom Chor, in fast „kammermusikalischer“ Weise korrespondieren, gab es eine Star-Besetzung, für die sogar Christa Mayer und Georg Zeppenfeld die kleineren Rollen als Emilia und Lodovico übernahmen, die sie dank ihrer perfekten, wohlklingenden Stimmen und großen Charakterisierungskunst als wichtige Charaktere im Getriebe der Handlung gestalteten.
Es gibt nur wenige, wirklich gute Otello-Sänger. Johan Botha, der die Rolle auch an der Semperoper übernehmen sollte, ist leider verstorben. Jonas Kaufmann hat sein Rollendebüt erst für 2017 in London geplant. Mit Stephen Gould, der erst kürzlich als Siegfried in Wagners gleichnamiger Oper begeisterte, hatte ein erfahrener Startenor die Rolle übernommen und „bewältigte“ sie scheinbar mühelos mit Stimmkraft und immer bewundernswerter Klarheit. Selbst bei expressiver Lautstärke kam er noch über das Orchester.
Andrzej Dobber war auch stimmlich ein Iago par exzellence. Er konnte seine Stimme einschmeichelnd schön klingen lassen, aber auch so, dass sein doppeltes, intrigantes Spiel mitschwang, ein „aalglatter“, intriganter „Strippenzieher“, der mit seiner Rollen-Interpretation stark beeindruckte.
Dorothea Röschmann, die frisch gekürte Grammy-Preisträgerin (für das beste klassische Sologesangsalbum „Schumann & Berg“ mit Mitsuko Uchidas, Klavier), konzentrierte sich als Desdemona vor allem auf exakten Gesang. Sie muss das hohe Ces erklimmen. Besonders ausdrucksstark sang sie in Todesahnung das „Lied von der Weide“, womit sie auch Mitgefühl erweckte.
Antonio Poli war als ziemlich jugendlich wirkendem Cassio, wie er betrunken über den Tisch taumelte, schwerlich der neu ernannte Hauptmann anzusehen. Robin Yujoong Kim agierte als zurückhaltender Rodrigo, Jan Nijhof als älterer, gesetzter Montana und Alexandros Stavrakakis (Junges Enemble) als Arnoldo.
Die Oper fand vor allem musikalisch statt. Da war höchste Dramatik, Dynamik und Aussagekraft zu spüren. Obwohl Regie und Bühnenbild, psychologisch mit Kreuz- und Querverbindungen vor allem rational durchdacht, der Handlung entsprechen, dürften sie die meisten Zuschauer emotional doch etwas „kühl“ gelassen haben, nicht aber die Zuhörenden.
Ingrid Gerk