Dresden / Semperoper: „LUCIA DI LAMMERMOOR“- EIN FEST DER STIMMEN – 25.11.2017
Seit der Premiere am 18.11.2017 ist „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti, ein Glanzstück des Belcanto, erstmals nach 80 Jahren wieder in einer szenischen Umsetzung auf der Bühne der Dresdner Oper zu erleben. Zurzeit werben große Poster mit dösenden Pferden im Gebirge für die in Schottland spielende Oper. Sollte das etwa bedeuten: „Zurück zur Natur?“ – auch in der Semperoper? Weit gefehlt, während an der Wiener Staatsoper schon wieder sehr ansprechende Neuinszenierungen die Besucher begeistern, scheint in Dresden die Zeit still zu stehen.
Gab es schon für die „Trojaner“ (Premiere: 29.10.2017) noch (fast etwas zu viel) „Farbe“ in Bild und Regie und bei den handelnden Personen immerhin eine entsprechende Charakterzeichnung, bewegt sich die Neuinszenierung von „Lucia di Lammermoor“ von Dietrich W. Hilsdorf, seine erste an der Semperoper, – wie schon viele ältere Inszenierungen europaweit – wieder in „reinem“ Schwarz-weiß, nicht nur, was das Bühnenbild von Johannes Leiacker, der hier schon die Bühnenbilder für „Macbeth“ geschaffen hat, zwischen Neonröhren, Tisch und Bett und (mehrfach auftauchendem) Sarg und natürlich Stühlen, Stühlen, Stühlen, die weitgehend ungenutzt und für die Regie eigentlich entbehrlich, vorwiegend im Hintergrund herumstehen, betrifft, sondern auch die „ältväterischen“, zwar historisierenden, aber die handelnden Personen nur wenig charakterisierenden Kostüme von Gesine Völlm, die hier schon „Hoffmanns Erzählungen“ wesentlich farbiger ausgestattet hat, und nicht zuletzt die Regie, die adlige Gesellschaft und Volk auf der einen Seite und Lucia auf der anderen in strenger schwarz-weiß-Malerei agieren lässt.
An die 100 Neonröhren bilden in halber Höhe einen palisadenähnlichen, veränderbaren Fries, mit dem verschiedene simple Räume aufgespannt werden – eine abstrakte Galerie im Adelspalst oder bedrückende Überwachung der Lucia? In der Gewitternacht flackert das Neonlicht so oft auf, wie es auch im schwersten Gewitter nicht vorkommen kann (Beleuchtung: Fabio Antoci).
Bei dieser Inszenierung deutet optisch auch nicht das kleinste Detail auf Schottland oder die äußeren Bedingungen der in Wort und Ton gesetzten, hochdramatischen und konfliktreichen Handlung hin. Bis in die 50/60er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde auf diese Seite einer Opernproduktion großer Wert gelegt. Hier wurde jetzt jede optische Publikumswirksamkeit ausgebremst, kein Hinweis auf die Macht, die sich auch in äußerem Reichtum wiederspiegelt und damit landes- und adelsspezifische Konventionen folgerichtig erscheinen lässt, aus denen Ressentiments, Rechtsbegriffe und Gewissenskonflikte resultieren. Man kann nur aus den deutschen bzw. englischen Übertiteln einiges entnehmen, sonst könnte man die Oper entsprechend Bühnenbild und Kostümen irgendwo in Franken oder Schwaben gegen Ende des 19. Jahrhunderts verorten.
Das Volk, verkörpert durch den sehr gut singenden und in typischen kleinen (Neben-)Szenen agierenden Sächsischen Staatsopernchor (Einstudierung: Cornelius Volke), wird als große, dumme, neugierige Masse dargestellt, hinterwäldlerisch und „altväterisch“ und mit allen (schlechten) Eigenschaften primitiver Menschen. Das hatten wir doch alles schon oft – seit mehreren Jahrzehnten! Damals war es neu und ein aufsehenerregender Gegenpart zu den historisierenden Inszenierungen. Jetzt wäre es an der Zeit, etwas wirklich Neues zu ersinnen! Als „Neuerung“ wird hier der Besucher von einem Poster am Vorhang mit obszönen (Lippen‑)Darstellungen und an der Rampe mit den Worten „Mors certa hora incerta“ („Der Tod ist gewiss, die Stunde ist ungewiss“) empfangen.
Zu Beginn der Vorstellung stimmt der während der China-Tournee in Dresden verbliebene Teil der Sächsischen Staatskapelle Dresden ganz pianissimo unter der Leitung des Belcanto-Spezialisten Giampaolo Bisanti mit dumpfen, düsteren Klängen auf das Geschehen ein. Zwei schwarz gekleidete Frauengestalten kriechen nacheinander unter dem Vorhang hervor, dann eine dritte – eine Reminiszenz an die drei Nornen in Wagners „Ring“ oder die drei Hexen in „Macbeth“? Parallelen zu anderen Opern wird man hier noch öfters finden, z. B. wenn Lord Enrico Ashtons Gefolge mit (Jagd‑)Gewehren wie der Jägerchor im „Freischütz“ erscheint oder Lucias verstorbene Mutter (Susanne Gasch) als Wiedergängerin aus dem Jenseits ihrem Sarg entsteigt und gelegentlich in angemessener Pose über die Bühne geht (vgl. „Hoffmanns Erzählungen“ von Harry Kupfer).
Die drei schwarzen Gestalten gehen aufeinander zu, umarmen sich und reißen den Vorhang herunter, das Spiel beginnt. Ein Hund bellt auf der Bühne (wahrscheinlich vom Neonlicht geblendet), an der Leine gehalten von Hauptmann Normanno (Tom Martinsen), der die tödliche Intrige „einfädelt“ (a la Iago in „Othello“?). Wenn er dann „den Hund von der Leine lässt“, der stracks von rechts nach links über die Bühne läuft, erinnert das unweigerlich an das von Caroline Jagemann, Mätresse von Herzog Carl August in Weimar, durchgesetzte Hunde-Theater, das Goethe veranlasste, seinen Posten als Theaterdirektor zu „quittieren“.
Während Donizetti große Gefühle in Musik gesetzt hat, die zu seiner Zeit (und auch später) mit großen Gesten und großen Worten auf der Opernbühne dargestellt und „ausgelebt“ wurden, sollen bei dieser Inszenierung die Protagonisten wie bösartige „Kleingeister“ agieren, obwohl sie dem Adel angehören, der sich zu allen Zeiten und in allen Ländern freier bewegte, dafür aber befangen und gefangen in Machtansprüchen, Ehrbegriffen und gesellschaftlichem Prestige.
„Lucia di Lammermoor“ enthält hochemotionale Charakterstudien von Menschen, die im Affekt zwischen Liebe und Treueschwüren, Intrigen und Hass handeln, hier aber sollen sie als unbedarfte Charaktere mit verhärteten Ansichten gezeichnet werden, die ohne Gefühle, ohne menschliche Regungen stereotyp agieren, doch die Darsteller können auch anders. Bei der Premiere (18.11.2017) soll es massive Buh-Rufe gegeben haben. Jetzt, bei der 3. Vorstellung mit der vollständigen Premierenbesetzung, hatten sich die Sängerinnen und Sänger, die sich sehen und vor allem hören lassen können, offenbar mehr Freiheiten genommen. Sie gingen in vielen Szenen aus sich heraus und gestalteten ihre Auftritte zu einem Fest der Stimmen und Emotionen.
Unbestritten war die junge, sensible Venera Gimadieva, die die Lucia Ashton, so ihr adliger Name, mit sängerischem Können und emotionsreicher Darstellung gestaltete, das Erlebnis des Abends. Sie verkörperte eine Lucia, der man viel Sympathie entgegenbringen konnte und brillierte nicht nur in der berühmten „Wahnsinns“-Arie, die sie weniger furios mit fliegenden Haaren, sondern streng nach hinten gekämmt, mit traumwandlerischen, klangschönen und vor allem beseelten Koloraturen, mit denen sie ihrem Traum von der Hochzeit mit ihrem geliebten Edgardo Ausdruck verleiht, in Szene setzte. Sie erfüllte die Rolle mit tief empfundenem Leben und gestaltete die gesamte Partie mühelos, ihre Koloraturen „perlten“ nur so. Sie schmückte ihren Gesang nach alter Belcanto-Sitte mit entsprechenden Verzierungen aus, nicht vordergründig, sondern in sinnvoller Weise, ganz im Dienste des Dramas. Ihre Darstellung und erst recht ihr Gesang hatten etwas Berührendes, das der Aufführung Leben und menschliche Wärme verlieh.
Ein Glücksfall war, dass es in Dresden einen sehr guten Glasharmonika-Spieler gibt, der mit seinem, von Donizetti ursprünglich vorgesehenen Instrument, das damals schon aus der Mode gekommen war, der großen „Wahnsinns“-Arie den gewissen Schauer, einen unheimlichen, unwirklichen, fast sphärischen Klang verlieh.
Edgaras Montvidas, ein Vollblut-Sänger und -darsteller, der seine künstlerische Aufgabe darin sieht, die Opernbesucher emotional zu berühren, ob nun in traditionellen Annäherungen oder modernem Regietheater (wenn das Konzept stimmt), vermochte seine ganze Ausdruckskraft einzusetzen. Mit seiner klaren, kraftvollen Stimme und, besonders in seiner letzten Arie, mit der er Abschied von der toten Lucia und seinem Leben nimmt, das er auf sehr ungewöhnliche Weise mit einem Schnitt durch die Schlagader beendet (!), vermochte er in sehr eindrucksvollem Piano und Mezzoforte seiner Partie auch berührenden Ausdruck zu verleihen.
Sehr eindrucksvoll sang und agierte Georg Zeppenfeld als geistlicher „Bruder“ Raimondo, ursprünglich Erzieher und Vertrauter Lucias, der bei dieser Inszenierung zu ihrem älteren Bruder „avanciert“ und ihre schockierende Bluttat verkünden muss. Er tat es sehr eindrucksvoll und mit großer Stimme, erschütternd und „unter die Haut“ gehend. Damit erweiterte er sein Rollenspektrum um eine weitere Facette.
Als Lord Enrico Ashton, der hier „jüngere“ und eigentliche Bruder Lucias, der den Familien-Clan vertritt und das Sagen hat, muss Aleksey Isaev den unerbittlichen Bösewicht spielen, was er entsprechend Regie und mit sicherer Stimme glaubhaft tat.
Dem, Lucia von ihm aufgezwungenen, politisch einflussreichen, aber schon älteren künftigen Ehemann, Lord Arturo Bucklaw lieh Simeon Esper Gestalt und Stimme.
Mit echtem Belcanto-Gespür leitete Bisanti die Staatskapelle durch den Abend, teils die Sänger unterstützend und begleitend, teils wie im Dialog mit dramatischer Steigerung im Orchester. Angesichts des außergewöhnlichen musikalischen Teils trat die Inszenierung zurück und begleitete die Oper im Hintergrund, die vor allem zwischen Sängern und Orchestergraben stattfand.
Ingrid Gerk