Dresden/Semperoper: „LA BOHÈME“ MIT ERNENNUNG VON HANS-JOACHIM KETELSEN ZUM EHRENMITGLIED DER SEMPEROPER – 3.2.2023
Der Bariton Hans-Joachim Ketelsen, der in Dresden viele große Rollen mit seiner unverwechselbaren Gesangs- und Darstellungskunst geprägt hat und an den großen Bühnen der Welt sang, wurde im Anschluss an die 371. Vorstellung von „La Bohème“ in der Inszenierung ursprünglich von, jetzt nach Christine Mielitz zum Ehrenmitglied der Semperoper ernannt. Einst musste er sich mehrmals an der Staatsoper Dresden bewerben, da er zwar sängerisch und darstellerisch Größe hatte, aber auch Körpergröße, und die schien manchem Verantwortlichen nicht ins Ensemble zu passen.
Dann passte es doch, und er konnte 1982 bis zur Spielzeit 2009/10 in vielen großen Rollen, wie Jochanaan („Salome“), Mandryka („Arabella“), Orest („Elektra“), Faninal („Der Rosenkavalier“), Amfortas („Parsifal“), Telramund („Lohengrin“), Beckmesser („Die Meistersinger von Nürnberg“), Don Fernando und Pizarro („Fidelio“) und und und … sowie Partien des italienischen Repertoires mit seiner nachhaltigen Gestaltung brillieren und als ständiger Gast in Berlin auftreten. Dann riefen ihn die großen Bühne der Welt, die Bayreuther Festspiele, die Staatsopern in Berlin, Hamburg und Wien und die New Yorker Met, wo sich der gefeierte Künstler 2013 mit einem letzten Gastspiel als Faninal im „Rosenkavalier“ von seiner internationalen Bühnenlaufbahn verabschiedete.
Danach sang er – wohl zum Vergnügen – seit Ende 2015 noch kleinere Opernrollen an der Semperoper und der Staatsoperette Dresden. Sie wurden nicht selten zu kleinen Bravourstücken. Nun wurde ihm, seit 1985 Kammersänger, verdientermaßen die seltene Ehrung eines Ehrenmitgliedes der Semperoper zuteil. Aus diesem Anlass schlüpfte er noch einmal in die Rolle des Vermieters Benoît in „La Bohème“ in der gleichen Inszenierung, bei deren Premiere (Pr.: 23.10.1983) er schon vor 40 Jahren mitgewirkt hat, und überzeugte die Opernbesucher einmal mehr mit seiner großartigen Darstellungskunst und Bühnenpräsenz. Er war der alternde kleinliche Vermieter. Bei Ketelsen macht jede kleine Geste Sinn, und auch eine kleine Rolle hat für ihn große Bedeutung. Er fügt sie als kleinen darstellerischen Höhepunkt in die Handlung ein, denn ohne Grund wurden sie von Librettist und Komponist nicht geschaffen.
Nach 40 Jahren ist die stimmige Inszenierung (Bühnenbild & Kostüme: Peter Heilein, Licht: Friedewalt Degen) der 1896 in Turin uraufgeführten „Szenen in vier Bildern aus dem autobiografischen Roman „Les scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger mit der Musik von Giacomo Puccini nach wie vor präsent und ein Zugstück, was auch das ausverkaufte Haus an diesem Abend wieder bewies. Kleine, inzwischen vorgenommene, Änderungen des Regiekonzeptes straffen die Handlung, und die Beleuchtung lässt die Bühnenbilder jetzt noch vorteilhafter erscheinen.
Da gibt es noch für jede Situation ein eigenes Bühnenbild, im 1. Bild das realistische Dachgeschossatelier über den Dächern von Paris, wo man mit den jungen, noch erfolglosen Künstlern friert, die aus Verzweiflung schon das Manuskript eines, vom jungen Dichter Rodolfo verfassten, Dramas verbrennen und das alles noch mit Humor nehmen, im 2. Bild das elegante „Momus“, wo sie alle großspurig Weihnachten feiern und sich pulsierendes Leben mit Spielzeugverkäufer, Kinderschar und kurzem Militär-Defilee auf dem Platz davor abspielt, im 3. Bild die frostige Winterlandschaft vor den Toren der Stadt mit der, geschickt in einer Seitengasse zu ahnenden, zweifelhaften Lokalität, wo Musetta auftritt und in deren Umgebung , sich Rodolfo von seiner aufrichtigen Liebe Mimi trennt und der Maler Marcello von seiner leichtlebigen Musetta, und im 4. Bild wieder die triste Mansarden-“Wohnung“, wo Rodolfo und Marcello ihrer – sehr unterschiedlichen – Liebe nachtrauern und die jungen Künstler schließlich mit Mimis Tod konfrontiert werden.
Das ist alles so stimmig und entspricht genau der Handlung der Oper, dass es schon zu einer „Rarität“ geworden ist, aber die Besucher wissen immer noch und immer wieder diesen „Klassik-Renner“ zu schätzen – und erst recht die Touristen, die die Inszenierung zum ersten Mal sehen.
Wie viele großartige Sängerinnen und Sänger sind in den vielen Jahren in wechselnden Besetzungen in dieser Inszenierung schon aufgetreten! Manche leben schon nicht mehr, wie der unvergessene Rainer Büsching, der den Alcindoro so nachhaltig gestaltete, dass man die Rolle immer wieder unwillkürlich mit ihm in Verbindung bringt. Er starb am 29.10.2022.
Jetzt trat Bernd Zettisch in dieser Rolle auf, anders, aber auch überzeugend als etwas naiver, alter, etwas einfältiger Mann, der noch einmal ein amouröses Abenteuer sucht und sich von der koketten, kapriziösen Musetta Nikola Hillebrands, die auch das leicht frivole, verführerische Wesen in der Stimme zum Ausdruck brachte und im 2. Bild gesanglich und darstellerisch die Szene dominierte, leicht um den Finger wickeln ließ. Ihr Geliebter, der Maler Marcello, wurde von Alexey Markov mit voller, wohlklingender Stimme und aufrichtig wirkendem Wesen verkörpert.
Gaetano Salas sang den Rodolfo,mit der richtigen Diktion und auch Emotion, die beim Publikum Mitgefühl auslöst. Die Stimme wurde im Verlauf des Abends immer geschmeidiger und klangvoller und verschmolz mit der von Claudia Pavone, die als zarte junge, gefühlvolle Mimì mit lyrischen Träumen ihre Rolle sehr glaubwürdig verkörperte und gesanglich wie darstellerisch den Mittelpunkt und ausstrahlenden Höhepunkt darstellte, im Duett zu klangvoller ,harmonischer Einheit.
Als Schaunard agierte Lawson Anderson und als Colline Matthias Henneberg, dessen „Mantel-Arie“ weniger berührte als bei so manchem Vorgänger in dieser Rolle. Die anderen Rollen waren mit Mitgliedern des Sächsischen Staatsopernchores besetzt: Jun-Seok-Bang als Parpignol, Matthias Beutlich als Sergeant der Zollwache, Andreas Heinze als Zöllner und Michael Auenmüller als Händler.
Bei allen Sängerinnen und Sängern fiel das stimmiges Spiel auf. Alle Rollen waren auch optisch gut und glaubhaft besetzt. Es gab sehr schöne Duette und harmonische Ensembleszenen, so dass es eine in sich abgerundete Aufführung wurde, bei der alles nahtlos ineinander überging, wofür nicht zuletzt auch die junge lettische Dirigentin Giedrė Šlekytė sorgte, die mit der prächtig musizierenden Sächsischen Staatskapelle Dresden für einen zügigen musikalischen Ablauf sorgte, auch gelegentlich mal das Tempo anzog, um die Spannung zu halten, den Sängern Raum zum Singen gab und mitunter auch mit allzu lauten „Paukenschlägen“ der Dramatik Ausdruck zu verleihen suchte.
Der Sächsische Staatsopernchor Dresden (André Kellinghaus) sang erwartungsgemäß sehr klangschön und p5räzise und der Kinderchor der Semperoper Dresden (Claudia Sebastian-Bertsch) kindgemäß und sehr gut abgestimmt beim ausgelassen Treiben auf dem Platz vorm „Momus“.
Zum Schluss kamen alle Sänger-Darsteller, nach ihrem wohlverdienten Applaus noch einmal vor den Vorhang, um Hans-Joachim Ketelsen zu flankieren, der seine Ernennungs-Urkunde aus den Händen von Intendant Peter Theiler in Empfang nehmen konnte. Sein Dank – sehr deutlich auch ohne Mikrofon gesprochen – galt dem Intendanten, seinen Sängerkolleginnen und -kollegen, dem Chor und – dem Publikum, von dem er nie ein „Buh“ bekam.
Anlässlich dieser Ehrung ist dem bedeutende Strauss-Interpreten Hans-Joachim Ketelsen in der Reihe „Semper Bar“ in der Spielstätte Semper Zwei am 8.4.2023 ein Porträt gewidmet, bei dem er im Rahmen der „Richard Strauss-Tage in der Semperoper“ einen musikalischen Einblick in das kompositorische Schaffen von Richard Strauss und seine persönlichen Erfahrungen damit gibt, angereichert mit Anekdoten und heiteren Geschichten aus seinem künstlerischem Leben, was bei seiner charmanten, nonchalanten Art einiges erwarten lässt.
Ingrid Gerk