Dresden / Semperoper, Kulturpalast, Kreuzkirche „GEDENKKONZERTE“ BEI SÄCHSISCHER STAATSKAPELLE, DRESDNER PHILHARMONIE UND KREUZKIRCHE ANLÄSSLICH DER ZERSTÖRUNG DRESDENS VOR 76 JAHREN – LIVE BZW. ÜBER FUNK UND FERNSEHEN – 13.2.2021
Einer jahrzehntelangen, bedeutungsvollen Tradition folgend, wurde auch in diesem Jahr trotz des strengen Lockdowns bei der Sächsischen Staatskapelle, der Dresdner Philharmonie und in der Kreuzkirche der Zerstörung Dresdens (13.2.1945) gegen Ende des 2. Weltkrieges mit Konzerten – live bzw. per Live-Übertragungen von Funk und Fernsehen gedacht. Die Schweigeminuten am Ende dieser Konzerte, bei denen Musiker und Publikum ohne Applaus leise aufstehen und in stillem Gedenken verharren, beeindrucken immer wieder – auch die (Gast‑)Dirigenten. Die Musiker gestehen, dass sie in diesen Gedenkkonzerten die Werke emotional anders spielen als sonst.
Das erste Gedenkkonzert, mit dem diese Tradition begründet wurde, fand 1946, genau ein Jahr nach dem verheerenden Luftangriff auf Dresden statt, bei dem mehr als 25 000 Einwohner starben sowie ungezählte Menschen in zwei Flüchtlingstrecks, die gerade in der Stadt angekommen waren, darunter der Komponist Peter Eötvös, der wie durch ein Wunder überlebte. Unermessliche Kunstschätze und Bauwerke gingen unwiederbringlich verloren. Um diese Ereignisse emotional zu verarbeiten, führten Dresdner Kreuzchor und Dresdner Philharmonie damals „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms unter der Leitung des damaligen Kreuzkantors Rudolf Mauersberger auf, der den Luftangriff hautnah miterlebt hat und dessen 50. Todestag in diesem Jahr (21.2.) gedacht wird.
Später nahmen auch andere Klangkörper der Stadt diesen Gedanken auf. Die Sächsische Staatskapelle führte aus diesem Anlass unter Rudolf Kempe 1951 erstmals ein Requiem, die „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi, auf und begründete damit ihre jahrzehntelange Tradition, an diesem Tag ein Requiem oder entsprechendes Werk aufzuführen. Die Dresdner Philharmonie wirkte nicht nur jedes Jahr bei den Gedenkkonzerten des Dresdner Kreuzchores mit, sondern veranstaltete auch eigene Konzerte. Einmal stimmte sogar die Staatsoperette mit Andrew Lloyd Webbers „Requiem“ in diesen Kanon ein. Nachdem die Frauenkirche wiedererrichtet war, fanden auch hier regelmäßig Gedenkkonzerte statt. All diese Konzerte gehören jetzt fest zum Muskleben der Stadt mit weiter Ausstrahlung.
Wegen des Lockdowns beteiligten sich in diesem Jahr Dresdner Kreuzchor und Frauenkirche nicht, aber an einer VESPER IN DER KREUZKIRCHE im kirchlichen Rahmen konnte sogar eine begrenzte Anzahl von Besuchern live teilnehmen. Eingebettet in zwei Orgelwerke von Johann Sebastian Bach, der „Fantasia g‑Moll“ (BWV 542,1) und der „Fuga g‑Moll“ (BW 542,2), erklang der „Totentanz“ von Herbert Collum (1914-1982), eindrucksvoll gestaltet an der großen Jehmlich-Orgel von Kreuzorganist Holger Gehring, dem Initiator dieser Vesper.
Collum, einer seiner Vorgänger, fast vier Jahrzehnte im Amt (1935-1982), konzipierte seinen „Totentanz 1944 und vollendete ihn 1945 unter den (auch persönlichen) Eindrücken von Krieg und Zerstörung. In diesem Variationszyklus, dessen zahlreiche, aneinandergereihte Variationen (15 davon kamen hier zur Aufführung) über eine alte Weise von 1638 „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod“ in kunstvoller Cantus-firmus-Technik verarbeitet, in einer Passacaglia-Fuge gipfeln, erscheint „Gevatter Tod“ mit sehr unterschiedlichen Gesichtern, brutal, grausam und schonungslos, aber zuweilen auch sanft und poetisch nachdenklich im Sinne von Erlösung.
Mit den ersten, sanft wiegenden Orgelklängen schritt die Tänzerin Sabine Jordan, eine an der Palucca Hochschule für Tanz Dresden ausgebildete Bühnentänzerin, die jetzt international als Flamencotänzerin tätig ist, dem Anlass entsprechend, ganz in schwarz gekleidet und barfuß, zum Altarplatz mit seinem kalten Marmorfußoden (was unwillkürlich an die selbst auferlegte Bußfertigkeit der Barfüßermönche erinnerte). Mit ästhetischen, ausdrucksvollen Gesten und Figuren, dynamischen Bewegungen und Drehungen zwischen sanften und expressiven Gebärden, setzte sie die Musik in Bewegung um und die Komposition adäquat in Ausdruckstanz, untermalt durch die Lesung der einzelnen vertonten Textstrophen des Liedes, abwechselnd von der „Kanzel“ (Pfarrer Holger Milkau) und den Stimmen zweier Sprecher (Thomas Koch, Hans Jürgen Weist) aus dem Mikrophon.
Trotz räumlicher Entfernung von Orgel und „Tanzfläche“ verschmolzen Musik und Ausdruckstanz zu einer im Fluss befindlichen Einheit. Mit unerbittlicher Intensität und Brisanz, mahnend, Vernichtung und Tod verkörpernd, zuweilen aber auch innehaltend und nachdenklich erschien „Gevatter Tod“ in vielfältigen Facetten von Musik und Tanz, bis zu einer niederschmetternden Kraft verdichtet, wenn die Tänzerin beim berstenden Schluss der Passacaglia-Fuge, bei der sich das Hauptmotiv über das, sich mit unerbittlicher Hartnäckigkeit im Pedal behauptende, Motiv des Todes wölbt, als menschliches Individuum in Einsamkeit, dunklen Mächten ausgesetzt, zerstört am Boden liegt, sich dann aber doch, wenn die Musik mit sanften Klängen in den befreienden Schluss des Liedes mündet („Trutz, Tod! Komm her! Ich fürcht dich nit!“), wieder in Hoffnung und Widerstand erhebt – ein Ende mit Trost, das von der, anschließenden, die 60minütige Vesper beendenden, „g-Moll-Fuge“ Bachs nachhaltig bekräftigt wurde.
J.S. Bach stand auch auf dem Programm in dem, vom Intendanten kurz vor Beginn der Proben abgesagten, GEDENKKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DREDEN, das von der Kapelle doch noch durchgesetzt und mit angepasstem, einstündigem Programm immerhin noch kurz vor dem Termin (13.2.) geprobt und einen Tag vorher ohne Publikum aufgezeichnet werden konnte, um dann termingerecht über Hörfunk (Deutschlandfunk Kultur) gesendet zu werden, sehr zur Freude des Sendeteams und der zahlreihen Musikfreunde.
Philippe Herreweghe, ein Experte für historische Aufführungspraxis, stellte die Themen Reue, Vergebung und Erlösung in den Mittelpunkt. Er hatte bereits vor drei Jahren das Gedenkkonzert mit einer originalen Variante von Bachs „Johannes-Passion“ geleitet und ursprünglich Bachs „h‑Moll-Messe“ vorgesehen und dann einige Bach-Kantaten. Schließlich kamen in dem notwendig abgewandelten Programm mit „Stummen Seufzern, stillen Klagen“, nur zwei, entsprechend dem Anlass ausgewählte, Bach-Kantaten mit jeweils einer einleitenden „Sinfonia“ aus Bachs reichem Kantaten-Œuvre zur Aufführung, die Klage, Trauer und Leid musikalisch deuten, in kleinerer Orchesterbesetzung mit sehr motivierten und engagierten Musikern.
Ob alte oder moderne Instrumente dafür verwendet werden, war in diesem Fall kein Thema, auch für Herreweghe nicht, denn auf das „Wie“ kommt es an. Hier spielen Engagement, Musikverständnis und Können eine Rolle, und das ist bei den Kapellmusikern in besten Händen. Die Musiker spielen auch Musik der Barockzeit auf ihren Instrumenten aus Gegenwart und romantischer Zeit, aber in historisch orientierter Aufführungspraxis, und bringen sie in dieser Form dem gegenwärtigen Konzertbesucher sehr nahe, für die Jetztzeit wohl die beste Variante, was bereits mit den ersten Klängen der „Sinfonia“ aus der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis« (BWV 21) mit ihren absteigenden Bässen und einem elegischen Duett zwischen Oboe und erster Violine in schöner Klarheit zum Ausdruck kam.
In der, 1727 in Leipzig uraufgeführten, Solokantate für Bassstimme „Ich habe genug“ (BWV 82) mit ihrer friedvollen Todessehnsucht erweckte diese Musizierweise Bachs Musik zu verinnerlichtem Leben in Klage, Trauer und Leid mit der Hoffnung auf Erlösung. Der kroatische Bassbariton Krešimir Stražanac sang die Solopartie mit seiner schlanken, geschmeidigen und sehr klangvollen Stimme und guter Textverständlichkeit, aufrichtig empfunden, mit natürlicher Anteilnahme, empfindsam und doch ganz im Dienst einer aussageträchtigen Gestaltung, wunderbar vom Orchester begleitet. Obwohl ohne Publikum aufgenommen, spürte man die Wärme und Anteilnahme, mit der musiziert und die Musik geistig ausgelotet wurde. Es wurde in zügigen, und als ideal empfundenen Tempi gespielt, nicht theoretisierend, sondern verinnerlicht und tief empfunden.
In gleicher, klanglich ausgewogener Schönheit und Klarheit wurde auch die, der zweiten Kantate vorangestellte „Sinfonia“ aus der Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen«“ (BWV 12) musiziert. In der nachfolgenden Solokantate „Mein Herze schwimmt im Blut“(BWV 199) in der Originalfassung von Weimar 1714 (mit Viola) hatte Dorothee Mields die Sopranpartie übernommen. Sie sang Rezitativ und Arien mit einer gewissen Freudigkeit in der Stimme, in allen Lagen exakt und sicher, mit genauer Phrasierung und leichten, lockeren, sehr klaren Koloraturen, auch im feinsten Pianissimo, bewusst gestaltet und mehr rational als emotional, wobei die heitere Gigue-ähnliche Da-capo-Arie „Wie freudig ist mein Herz“ ihrem Naturell besonders entgegenkam. Die Kapell-Musiker ließen den rein instrumentalen Mittelteil und die Begleitung der Arien zu einem besonderen musikalischen Genuss werden. Trotz ihres gläubigen Ernstes vermittelten die Kantaten auch Trost und Hoffnung auf Erlösung.
Das GEDENKKONZERT DER DRESDNER PHILHARMONIE wurde fast immer vom jeweiligen Chefdirigenten geleitet, und so ließ es sich auch Chefdirigent und künstlerischer Leiter Marek Janowski trotz vollem Terminkalender nicht nehmen, selbst zu dirigieren und, obwohl durch den Lockdown alle Live-Aufführungen untersagt sind, im Konzertsaal im Kulturpalast ein abendfüllendes Programm (80 min.) live zu gestalten und über die Medien zu übertragen. „Es ist uns als Dresdner Philharmonie ein wichtiges Anliegen, dass auch und gerade in diesem Jahr das traditionelle Konzert zum Gedenktag am 13. Februar stattfinden kann“, erklärte er. „Ich weiß, dass die spezifische Tradition des Erinnerns, zu der auch die Gedenkkonzerte der Dresdner Philharmonie gehören, nach wie vor für viele Dresdnerinnen und Dresdner sehr wichtig ist und dass sie auch weit über Dresden hinaus wirkt …“.
Intendantin Frauke Rot, brachte es mit den Worten zum Ausdruck: „Ihre Gedenkkonzerte zum 13. Februar sind für die Dresdner Philharmonie ein gelebtes und tief verwurzeltes Ritual. Sie bieten an diesem Tag einen besonderen Rahmen für die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse …“.
Der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer und Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Dresden, Dirk Hilbert, richteten Grußworte an das, „live“ nur über Rundfunk (MDR Klassik und MDR Kultur) und Fernsehen (Sachsen Fernsehen) sowie anschließend per Livestream im Internet) „anwesende“ Publikum.
Auch hier stand J. S. Bach auf dem Programm. Als erstes Werk erklang das 1747 von ihm komponierte, „Ricercar a 6“ aus seinem „Musikalischen Opfer“ (BWV 1079) in einer Fassung von Anton Webern, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der führenden –Ansicht anschloss, dass Bachs Spätwerk nicht für ein bestimmtes Instrument geschrieben sei. Anders als zahlreiche Komponisten, die das „Musikalische Opfers“ zu instrumentieren versuchten, übertrug er seine eigene Kompositionstechnik auf das sechsstimmige, streng zweihändig auf einer Tastatur zu spielende, „Ricercar“. Als Schüler Schönbergs verwendete er die Zwölftontechnik, aber – anders als sein Lehrer -in kleiner, hochkonzentrierter Form. Dennoch ging nichts von Bachs Intensität und Aussage verloren. Das Werk beeindruckte auch in dieser Form, sehr farbig, klangschön und in klarer Linienführung vom Orchester gespielt, wobei Bachs kontrapunktische Kunst und Weberns sehr persönlicher Gestaltungswille gleichermaßen Klangbild und Struktur prägten.
Die darauffolgende, von Wolfgang Amadeus Mozart (1773) als Jugendlicher komponierte „Kleine g-Moll-Symphonie“ (KV 183) (im Gegensatz zur „Großen g‑Moll-Symphonie“) wirkt schon allein durch ihre Tonart, ihren intensiven Ausdruck und ihre besondere Instrumentation mit vier Hörnern ungewöhnlich und anders, als man es bei Mozarts Instrumentalmusik erwartet. Hier klingt eine ungewohnte, sehr ernste, fast tragische Stimmung an, ein „innerer Aufruhr des Orchesters“ (Alfred Einstein), womit sie dem gegebenen Anlass sehr gut entsprach.
Janowski begann mit zügigem Tempo und führte die Sinfonie flott und akzentuiert aus, relativ straff, herzhaft und fast etwas derb, kein tändelnder, heiterer, lieblicher Mozart, eher relativ kräftig, mit tänzerischem Temperament, nicht trauernd, aber mit anklingenden düsteren Tönen in Moll, forsch, resolut, wie um allen Widrigkeiten selbstbewusst und voller jugendlichem „Tatendrang“ zu trotzen, auch als wehte ein Hauch herber Frische wie bei Brahms herüber. Mozarts Musik schadete das aber nicht, sie brach sich in dieser Interpretation ihre Bahn mit Vehemenz und Feuereifer, flott und mitreißend und mit ihren Anklängen an geheimnisvolle Gedankentiefen.
Das Konzert kulminierte in den etwa 30minütgen „Metamorphosen“ – Studie für 23 Solostreicher“ (1945) von Richard Strauss, seinem Auftraggeber Paul Sacher gewidmet, der es mit dem Collegium Musicum Zürich 1946 uraufführte. Strauss schrieb es vier Jahre vor seinem Tod, im März/April 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges „in verzweifelter Stimmung! Das Goethehaus, der Welt größtes Heiligtum, zerstört. Mein schönes Dresden – Weimar – München, alles dahin!“. Er verstand es als Abschied von seinem Schaffen und der in Ruinen liegenden Welt, als seinen letzten „Klagegesang“, was u. a. in dem Zitat des Themas aus dem Trauermarschmotiv in c‑Moll aus Beethovens „Dritter „Sinfonie“ und in den Worten „in memoriam“, die er in die Partitur schrieb, anklingt.
Das Werk stellt hohe und höchste Ansprüche an Dirigent und Musiker, von denen jeder solistische Aufgaben hat. Die Streicher der Philharmonie wurden diesem Anspruch mit feinem Ausdruck, gewissenhaft „ausgefeilt“ bis ins Detail und mit warmem, weichem, vollem Klang gerecht, besonders beeindruckend das durchscheinende Cello mit seinem traurigen Duktus. Die Musiker waren mit Herz und Seele dabei und gaben ihr Bestes. Immer wieder klang die große Trauer durch.
Die drei Veranstaltungen fanden alle am gleichen Tag in der hier aufgeführten Reihenfolge statt und waren so getimt, dass man alle drei miterleben konnte. Bei allen Ausführenden, Dirigenten, Musikern und Tänzerin, war eine große Ernsthaftigkeit und Hingabe zu spüren. Sie brauchen die Aufführungen genauso wie das Publikum. Am Ende der Veranstaltungen konnte man sich als Zuhörer lediglich in der Vesper der Kreuzkirche still erheben, nach den anderen beiden Konzerten nur mit „innerlichem“ Dank zu Hause.
Ingrid Gerk