Dresden / Semperoper, Kreuzkirche u. a.: KONZERTE ZUM DRESDNER GEDENKTAG MIT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPPELLE UNTER THIELEMANN, DEM DRESDNER KREUZCHOR u. a. – 12./13./14.2.2022
Jetzt, nach 77 Jahren ist die Gedenkkultur mit Konzerten, Menschenketten, Glockengeläut, kirchlichen und weltlichen Veranstaltungen, Vorträgen. Lesungen u. a. anlässlich der Zerstörung Dresdens kurz vor dem Ende des II. Weltkrieges, am 13./14. Februar 1945, als in einer einzigen Bombennacht, zahllose Kunstschätze und Kulturgüter von Weltrang unwiederbringlich verloren gingen und unzählige Menschen (mindestens 25000) starben, noch immer sehr lebendig und, emotional verankert – und leider auch wieder aktuell. Es ist eine Erinnerungskultur im internationalen Gedenken, die weit über die Grenzen der Stadt ausstrahlt.
Die Frage, warum gerade in Dresden dieser „Gedenkkult“ solche Bedeutung hat, obwohl doch andere deutsche Städte ebenso stark zerstört wurden, kann wahrscheinlich vor allem damit erklärt werden, dass sich die Dresdner mit ihrer Stadt und ihren kulturellen Schätzen mehr als die Bewohner anderer Städte identifizieren und sie der Verlust der Kunstschätze mehr schmerzte als der des persönlichen Eigentums. Gerhard Hauptmann bekannte: „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Anblick Dresdens“.
Die Gedenkkonzerte haben ihren festen Platz im Dresdner Musikleben und im Bewusstsein der Bevölkerung. Die Dresdner und zahlreiche Besucher der Stadt möchten diese Konzerte nicht missen und halten trotz mancher Gegenmeinungen an dieser Tradition fest. Als Christian Thielemann nach Dresden kam, war er von dieser Tradition sehr beeindruckt. Für ihn ist es eine großartige Tradition, stellvertretend auch für andere Städte. Diese Erinnerung ist, wie er sagte. „in keiner anderen Stadt gedanklich und emotional so aufgeladen. Es erfasst die ganze Stadt.“ Seitdem leitet er die Gedenkkonzerte der Sächsischen Staatskapelle Dresden jedes Jahr nach Möglichkeit selbst.
Als erste Veranstaltung einer Reihe von Gedenkkonzerten fand in der Kreuzkirche eine der sonnabendlichen musikalischen Vespern (12.2.) statt, auf die das, seit Jahrzehnten alljährlich stattfindende, abendfüllende Gedenkkonzert des Dresdner Kreuzchores reduziert war. Traditionsgemäß wurde auch diese Vesper mit der, in diesem Rahmen nicht mehr wegzudenkenden, Trauermotette für vier- bis siebenstimmigen Chor „Wie liegt die Stadt so wüst“ eingeleitet, die der damalige Kreuzkantor Rudolf Mauersberger (1889-1971) einige Wochen nach dem von ihm hautnah erlebten Inferno nach Bibelworten, den „Klageliedern Jeremias“, mit denen Ereignis und Emotionen nicht eindrücklicher geschildert werden könnten, komponierte. Sie wurde am 4.8.1945 in der ausgebrannten Kreuzkirche uraufgeführt und berührt auch jetzt immer wieder, sooft man sie auch hört.
Der Kreuzchor sang in großer Besetzung und mit erstaunlich kräftigen und sicheren Sopranstimmen, mit schöner Klarheit, fein phrasiert und nuanciert und mit entsprechendem Ausdruck unter der Leitung von Kreuzkantor Roderich Kreile. Das anschließende, traditionell dazugehörende Glockengeläut setzte leider etwas zu zeitig ein, so dass der sensibel ausklingende Schluss darin verschwand.
Transparent und mit klar herausgearbeiteter Polyphonie folgten zwei Motetten von Johann Sebastian Bach, getrennt durch den kurzen, in den Vespern üblichen, liturgischen Ablauf. Ausgeglichen und bewegend erklang zunächst die fünfstimmige Motette „Jesu, meine Freude“ (BWV 227)“ und danach die Motette „Fürchte dich nicht (BWV 228) für zwei vierstimmige Chöre, die in zügigem Tempo mit hoher Qualität begann. An der großen Jehmlich-Orgel ergänzte Kreuzkirchenorganist Holger Gehring das Programm mit Bachs „Praeludium et Fuga e‑Moll (/BWV 548).
In der Frauenkirche fanden ein Gedenkkonzert (12.2.) mit Werken von Michael Prätorius, auch im Gedenken an dessen 400. Geburtstag, statt, ausgeführt vom Kammerchor der Frauenkirche unter Matthias Grünert sowie am nächsten Tag (12.2.) eine Aufführung des „Requiems“ von Gabriel Fauré mit der Europachorakademie unter der Leitung von Jan Hoffmann.
Marek Janowski, 2001 bis 2003 und seit 2019 wieder Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, lässt es sich nicht nehmen, das alljährliche Gedenkkonzert „seines“ Orchesters zu leiten. In diesem Jahr standen das Violinkonzert“ von Karl Amadeus Hartmann und die „Symphonie Nr. 4“ von Johannes Brahms (12./13.2.) auf dem Programm (zusätzlich übertragen von Sachsen Fernsehen).
Bei der Sächsischen Staatskapelle haben die Gedenkkonzerte eine lange Tradition seit Rudolf Kempe 1951 mit der „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi zum ersten Mal an diesem Tag ein Requiem im Symphoniekonzert aufführte. Seither führt die Staatskapelle alljährlich am Dresdner Gedenktag eine der großen Requiem-Vertonungen oder ein ähnliches, dem Anlass entsprechendes, Werk unter dem Zeichen der Versöhnung, Mahnung und Hoffnung auf. Anstelle des Beifalls enden diese Aufführungen mit einer Schweigeminute.
Thielemann, dem diese Konzerte ein besonderes Anliegen sind, hatte in diesem Jahr für das 6. Symphoniekonzert (13./14.2.) die letzte, unvollendet gebliebene „Symphonie Nr. 9 d‑Moll“ von Anton Bruckner gewählt, mit der der Komponist sein Leben abschloss. So, wie es Bruckner auf Vorschlag des Dirigenten Hans Richter seinerzeit selbst wollte, schloss sich anstelle des fehlenden Finalsatzes sein „Te Deum C-Dur“ für Soli, Chor, Orchester und Orgel an, das damals den Ruf des Komponisten begründete und ihn mit Stolz erfüllte. Bruckner schloss damit verbal, formal und emotional an Ludwig van Beethoven an, den er verehrte.
Wenn Thielemann und Bruckner“ angekündigt werden, sind die Erwartungen sehr hoch, aber es wurde niemand enttäuscht und die höchsten Erwartungen noch übertroffen. Unter Thielemanns, bis zum äußersten das Werk auslotenden, Leitung setzten sich Staatskapelle und international renommierte Gesangssolisten mit großem Engagement, Leistungswillen und Leidenschaft ein. Beide Seiten musizierten auf Augenhöhe, wie eine organische Einheit, mit gleichem Atem. Es stellte sich wieder diese einmalige Verbindung von Dirigent und Orchester ein, die so selten ist. Thielemann durchlebte die Musik und die Kapellmusiker mit ihm. Sie folgten seinen Intentionen in jeder Phase mit größter Aufmerksamkeit.
Nach dem gewaltig-kraftvollen Beginn dieser „radikalsten“ Symphonie Bruckners mit ihren „harmonischen Kühnheiten, elementaren Kraftausbrüchen und strömender Melodik sowie sakralen Anklängen“ bestachen die sehr sauberen, ausdrucksstarken, in höchster Qualität und mit sehr feiner Dynamik musizierenden Bläser und die „singenden“ Streicher in einem idealen Zusammenwirken. Jeder gab an seinem Platz sein Bestes im steten Wechsel zwischen motorisch hämmernden, emotional aufgeladenen Passagen, die aber, da folgerichtig, bei dieser Wiedergabe dem Ohr nicht wehtaten, und wieder lieblichen, fein zelebrierten, fast idyllischen, lyrisch ausdrucksvollen Momenten, beides fast bis ins Extreme gesteigert und bis in die tiefsten gedanklichen, geistigen und emotionalen Tiefen vordringend, wobei auch Stimmungen hervorgerufen und die Anklänge an Wagner und Tschaikowsky hörbar wurden. Bei so großer Transparenz fallen kleine Unstimmigkeiten zwar auf, können aber den großartigen Gesamteindruck nicht trüben.
Nach dem weihevollen „Adagio“ (dritter Satz), dessen Choralmotiv Bruckner seinen „Abschied vom Leben“ nannte, folgte der „Stolz seins Lebens“, sein feierliches, emotional aufgewühltes, Hoffnung stiftenden „Te deum“, sein zu Lebzeiten berühmtestes Werk, das ihm den „Durchbruch“ verschaffte. Der Sächsische Staatsopernchor Dresden (Einstudierung: André Kellinghaus) setzte, ganz im Brucknerschen Duktus, kraftvoll ein. Aus dem Klang erhob sich die klare Sopranstimme von Camilla Nylund, die tags zuvor (12.2.) in Berlin Elisabeth und Venus („Tannhäuser“) gesungen hatte.
Dann stimmte Benjamin Bruns, ein, der kurzfristig für den ursprünglich vorgesehenen Saimir Pirgu eingesprungen war und die Tenorpartie mühelos bewältigte, sich mit der Sopranstimme in schöner Übereinstimmung verband und mit ihr den wichtigsten solistischen Anteil bestritt. Für die Altstimme hatte Bruckner keine solistischen Aufgaben vorgesehen, so dass Elena Zhidkova nur der Sopranstimme bzw. dem Solistenensemble eine wohlklingende „Färbung“ verleihen konnte. Das relativ kleine Bass-Solo gestaltete Franz-Josef Selig sehr eindrucksvoll, ruhig und ausgeglichen, mit schöner Stimme und dem Anlass entsprechend.
Es war eine äußerst eindrucksvolle, bewegende Wiedergabe dieser selten zu hörenden Kombination von „IX. Symphonie“ und „Te deum“, ein würdiges Gedenken zu diesem Anlass.
Um trotz Corona-Regeln und eingeschränkter Besucherzahlen möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, an der Aufführung teilzuhaben, wurde das Konzert von zwei Rundfunkstationen (MDR Kultur und MDR Klassik sowie ‚Deutschlandfunk Kultur) live bzw. zeitversetzt (mit etwas unterschiedlicher Tonqualität) übertragen, so dass man das Konzert fast zweimal im Rundfunk hören konnte.
Ingrid Gerk, Annemarie Zetzsche