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DRESDEN/ Semperoper: IPHIGENIE AUF TAURIS – „Tanzoper“ von Pina Pausch

16.12.2019 | Ballett/Performance

Dresden / Semperoper: IPHIGENIE AUF TAURIS – „TANZOPER“ VON PINA BAUSCH – 15.12.2019

1974 kreierte Pina Bausch als ihre zweite, neu- und andersartige Choreographie und Inszenierung an den Bühnen der Stadt Wuppertal, ihre „Tanzoper in vier Akten“ „Iphigenie auf Tauris“ nach der gleichnamigen Oper von Christoph Willibald Gluck (Libretto: Nicolas Francois Guillard, deutsche Fassung: J. B. v. Alxinger und Ch. W. Gluck). Sie überschritt darin die Grenzen zwischen Oper und Theatralik, erschloss dem Tanztheater neue Freiräume und schuf damit ein Gesamtkunstwerk aus Oper und Tanz. Vieles davon wurde später in vielfältiger Weise von anderen Choreografen nachgeahmt und auch in deren eigener Sprache weiterentwickelt, so dass ihr damals neuartiges Tanztheater, mit dem sie gleichzeitig irritierte und begeisterte, inzwischen zum Allgemeingut der Choreografen geworden ist. Jetzt regt das niemand mehr auf, man nimmt es als das, was es ist, eine unverfälschte, mit den Mitteln des Tanzes und der Musik unmissverständlich klar erzählte Handlung ohne Verfremdungen mit dem Versuch einer vorsichtigen Annäherung an die menschlichen Beweggründe.

Nach 45 Jahre seit der Uraufführung brachte nun Aaron S. Watkin das Werk in Kooperation des Semperoper Ballett und der Pina Bausch Foundation in Zusammenarbeit mit dem Tanztheater Wuppertal auf die Bühne der Semperoper (Premiere: 5.12.2019). Jetzt fand die 5. Vorstellung und trotz des großen Aufwandes bei der Einstudierung auch schon die letzte in dieser Spielzeit statt. Im Vergleich zur Premiere haben spätere Aufführungen oft den Vorteil, dass vieles gelöster und ausgeglichener wirkt und sich die Akteure mit ihren Rollen identifiziert haben.

Vieles an dieser puristischen Inszenierung wirkt auch jetzt noch zeitgemäß: die kahle Bühne, die reduzierten Kostüme, der nackte Look, viel Haut und die barfuß Tanzenden. Wenn sich der Vorhang mit dem ersten Ton von Glucks Musik öffnet, empfangen den Zuschauer lange, weiße „Vorhänge“, die wie Doppelbetten-Bettlaken auf der Leine hängen. Auf einer kleineren „Wäscheleine“ im Hintergrund „baumeln“ pastellfarbene Kleidchen, die die Tänzerinnen später tragen. Die gesamte Inszenierung ist im Wesentlichen in Schwarz und Weiß gehalten, was aber keine Schwarz-Weiß-Zeichung der Charaktere bedeutet.

Dazwischen liegt die große, schlanke, ebenmäßig gewachsene Sanheun Lee als Iphigenie am Boden, flattert mit den Armen aus Angst und Verzweiflung und bewegt sich später mit fliegenden Haaren, in erstarrtem Schreiten und wilden Bewegungen durch die Formationen weiß gekleideter, junger Frauen, denn ein böser Traum, ihr Vater Agamemnon sei tot und ihre Mutter habe ihr ein Schwert in die Hand gedrückt, ist ihr unerträglich geworden. Nach dem Gesetz des Thoas, König von Taurus, muss sie als Priesterin der Diana, der sie ihr Leben verdankt, weil sie von ihr einst vom Opferaltar gerettet und nach Tauris gebracht wurde, als ihre Priesterin jeden neu ankommenden Fremdling töten, auch zwei junge Griechen aus ihrer Heimat, die sie erst gegen Ende des Stücks „in letzter Minute“ als ihren Bruder Orest und seinen Freund Pylades identifieren kann, vom Opfertod befreit und für ein Happy End sorgt, ganz im Sinne Glucks und seiner Zeit mit ihrer humanistischen (utopischen) Gesinnung.

Aber so weit sind wir noch nicht. Zunächst taucht aus einer halb verdeckten, halb sichtbaren “gusseisernen“ Badewanne mit Löwenfüßen aus Urgroßmutters Zeiten, die gerade wieder modern ist, plötzlich Agamemnon (Gareth Haw) auf und wird in Rückblende von seiner Frau in einer drastischen Mordszene über der Badewanne mit einem roten Schal stranguliert (geht dann aber später mit ihr einträchtig und mit leisen Schritten durch die Bettlaken-Vorhänge von der Bühne ab. Das ist eben Theater, wo die Toten wieder „auferstehen“).

In dieser puristischen Inszenierung (Bühnenbild: Pina Bausch und Jürgen Dreier) bewegen sich die Agierenden ganz im Sinne von Handlung und Musik in ungewöhnlichen tänzerischen Bewegungen sehr gemessen zur langsamen Musik bis zur „Zeitlupe“, um die Spannung zu erhöhen, dann wieder mit ruckartigen Bewegungen, in schnellem Lauf über die Bühne oder auch als eindrucksvolle „stehende Bilder“, gelegentlich auch ganz ohne Musik. Thoas (Casey Ouzounis) betritt die Bühne wie in einem schweren, „eisernen“ Mantel und stellt ihn ab im wahrsten Sinne des Wortes, um in grotesken, ruckartigen, zackigen Bewegungen seine irrwitzige Macht und seinen Zorn auszudrücken. Mit ihren großartigen tänzerischen Leistungen gaben Rio Anderson als Klytämnestra und Svetlana Gileva als Elektra, die auch als Priesterinnen und Skyten mitwirkten, Profil.

Sehr realistisch wird hingegen nicht nur die Freundschaft zwischen den beiden, scheinbar nackt mit tänzerischen Glanzleistungen, oft in völlig synchronen Körperbewegungen ausdrucksstark agierenden, Freunden Orest (Francesco Pio Ricci) und Pylades (Julian Amir Lacey), sondern auch Zuneigung, Liebe und Emotion in Anbetracht des drohenden Todes in dramatischen und auch eindeutig erotischen Szenen, die den Kern der Choreografie bilden, dargestellt. Im dritten Akt befindet sich auf der Bühne ein riesiges quadratisches Loch, das scheinbar in den Abgrund führt und das drohende Ende für die Freunde symbolisiert.

Die Opferszene der beiden jungen Griechen im 4. Akt soll dann auf einem eigentümlichen Altar aus einer sehr langen Leiter, die das Opfer angeschleppt bringt, einem alten Holztisch und besagter Badewanne vollzogen werden. Vielleicht damit es keine Blutflecken gibt (ein Handtuch hängt jedenfalls wie beim Baden über dem Wannenrand). Eine Frau (Jenny Laudadio) bringt einen großen Strauss weißer Blumen, mit denen sie langsam den Altar dekoriert. Sehr archaisch wirkt das gerade nicht.

Die Choreographie folgt dem Handlungsablauf der Oper, wobei Sänger und Tänzer getrennt agieren. „Umrahmung“, Grundlage, Fundament und Ausgangspunkt des Bühnengeschehens sind Musik, Gesang und Text, in symbolhafte Bilder umgesetzt und illustriert. Sächsische Staatskapelle und Sächsischer Staatsopernchor teilen sich den Orchestergraben, der durch eine Abdeckung, die die Bühne in ein unregelmäßiges Vieleck verwandelt, verkleinert wird. Unter der energiegeladenen Leitung des mit der Musik Glucks vertrauten Jonathan Darlington spielte die Kapelle sehr zuverlässig und klangschön, zunächst mit feiner, dezenter Tongebung, später auf dem Höhepunkt der dramatischen Zuspitzung mit starkem Ausdruck, ergänzt von dem ebenfalls sehr zuverlässig und stilgerecht singenden Chor.

Die aus beiden Proszeniumslogen singenden Solisten bilden das Pendant zu ihren Rollenpartnern auf der Bühne, deren Tanzbewegungen und ausdrucksstarke Bilder mit Text und Gesang verschmolzen. Gabriela Scherer hatte mit der Partie der Iphigenie, die eine starke Kondition erfordert, den „Löwenanteil“ zu singen. Sebastian Wartig überzeugte als stimmkräftiger Orest und Joseph Dennis als etwas „zarterer“ Pylades. Lawson Anderson war Thoas und Roxana Incontrera eine gute Diana. Einem Diener gab Reinhold Schreyer-Morlock (Mitglied des Staatsopernchores) seine Stimme.

 Was an dieser Adaption von Glucks Oper, mit der eine antike Geschichte als psychologisches Drama erzählt wird und ganz auf die Charaktere und ihre Emotionen konzentriert ist, fasziniert, ist die Ehrlichkeit und Einfachheit im Umgang mit der Wirklichkeit in einer geradlinigen Konzentration auf das, was die Menschen bewusst oder unbewusst bewegt, ganz im Sinne Glucks, der seinerzeit die Oper diesbezüglich revolutionierte.

Ingrid Gerk

 

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