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DRESDEN/ Semperoper: IL VIAGGIO A REIMS von Gioachino Rossini als politisches Kabarett großen Stils. Premiere

29.09.2019 | Oper

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Copyright: Ludwig Olah

Dresden / Semperoper: “IL VIAGGIO A REIMS / DIE REISE NACH REIMS” VON GIOACHINO ROSSINI ALS POLITISCHES KABARETT GROSSEN STILS – 28.9.2019 Premiere

In Dresdens Innenstadt werben gegenwärtig große Poster für die Premiere von „Il viaggio a Reims / Die Reise nach Reims“ von Gioachino Rossini mit einer grünen Landschaft, über der ein arg zerschlissener, seidener Vorhang mit unzähligen großen und kleinen Löchern weht, so morsch wie die europäische Politik damals oder heute ? oder symbolisch für die vielen neugierig spähenden Augen einer Gruppe multikultureller adliger Reisender aus ganz Europa, die zur Krönung des neuen französischen Königs Karls X. nach Reims reisen wollen, aber dort nicht ankommen.

Gegenwärtig stranden zuweilen Urlauber am Flughafen, weil ihr Reisebüro Insolvenz angemeldet hat. In Rossinis, 1825 uraufgeführter, Oper scheitern die Vertreter der politischen Mächte Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mangels Pferden für die Weiterreise und landen unfreiwillig in einem Luxushotel nahe Reims, was jetzt kein Problem mehr wäre, damals aber schon. In der scheinbar harmlosen Hotel-Situation entwickeln sich sehr bald unter dem Deckmantel der Seriosität Liebeshändel, Eifersüchteleien, Interessenkonflikte, verborgene Absichten und Intrigen, die vor allem jeden denkbaren Anlass zu einer musikalisch virtuosen Gefühlsäußerung geben. Die Turbulenzen enden schließlich in einem „Frieden“ stiftenden, Nationalitäten „umarmenden“ Bankett – ein operettenhafter Schluss, damals utopischer Wunschtraum oder Zugeständnis an den Auftraggeber?

Das Libretto für dieses ungewöhnliche Dramma giocoso in einem Akt mit zwei Bildern mit Satire-Charakter schrieb Giuseppe Luigi Balochi. Wegen der versteckten Satire wurde die Oper vereinzelt auch später noch aufgeführt. Rossini selbst bezeichnete sie privat als „Kantate“, verwarf sie, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte, und benutzte sie als „Steinbruch“ weiterer Opern, weshalb sie weitgehend unbekannt blieb. Die Semperoper brachte nun die  personell sehr aufwendige, musikalisch vielfarbige und hochvirtuose Oper als erste Premiere der neuen Spielzeit und damit Erstaufführung für Dresden heraus – in der Version der, in Paris lebenden italienischen Regisseurin Laura Scozzi, die das Stück 2012 als aberwitziges Euro-Panoptikum auf die Bühne des Nürnberger Staatstheaters brachte.

Sie seziert die Geschichte auf ihre Art und passte sie auf Wunsch von Intendant Peter Theiler den aktuellen europäischen Befindlichkeiten und politischen Strömungen abseits einer konkreten Handlung als Charakterstudie noch weiter an, um zur Auseinandersetzung mit zeitlos aktuellen Gesellschaftsthemen anzuregen. Den unfreiwilligen Stopp der Gesellschaft verlegt sie in ein sehr modernes Gebäude zwischen Nobelhotel und Großraumbüro mit Flughafenanschluss und (scheinbar) geschäftigem Treiben.

Mit allen jetzt zu Gebote stehenden Inszenierungsmitteln, hier durchaus passenden Video- und Fernseheinblendungen, neuen und alten Ideen und bekannten Sujets mit ironischen Anspielungen als Ausdruck einer hintergründigen Wahrheit, wie die Braut, die am Arm ihres neuen Gatten ihren langen Schleier sehr beschwerlich hinter sich herzieht, weil auf seinem Ende ein anderer Mann hockt, oder die Polin, die sich erst sehr lange dem um sie werbenden russischen Adligen verweigert, um ihm dann beim vorgetäuschten Sex mit Fesseln und Augenbinde den Diplomatenkoffer zu entwenden, doppeldeutig für die politischen Beziehungen, bei denen sich Polen mit eingeblendeter Rückbesinnung auf die Solidarnosc-Bewegung dem politischen Einfluss Russlands zu entziehen versucht, usw. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass alles Mögliche reißerisch eingefügt wurde, was irgendwelche Publikumsreaktionen bewirken könnte, so dass die gesamte Oper regiemäßig ziemlich überfrachtet schien.

Natürlich darf da auch Sex in eindeutigen Szenen zwecks zweideutiger Aussagen nicht fehlen. Da wurde auch mit obszönen Einlagen nicht gespart, z. B. wenn die – in der Realität sehr distinguierte Queen – gleich zweimal die Beine spreizt – als Spagat zwischen EU und Brexit. In England dürfte man so etwas nicht zeigen! Und es gab auch einen neuen Versuch, Reklame einzuführen. Dafür führte die Reise mal kurz von Reims nach Radebeul bei Dresden zum Weingut.

Natacha Le Guen de Kerneizon schuf unter Verwendung von leicht knarrender Drehbühne (weil sie so lange nicht benutzt wurde oder weil es im Getriebe knirrscht?) und sonstiger moderner Technik, die in der Semperoper in großem Umfang zur Verfügung steht, aber selten genutzt wird, im Rahmen der Umdeutung ein ansprechendes, großzügiges, helles, gut proportioniertes Bühnenbild, das Raum und Möglichkeiten für alle non stop kontrast- und abwechslungsreich aufeinanderfolgenden Szenen mit immer neuen Gags, wie z. B. eine Flucht durch mehrere Zimmer, und sonstige Situationen bietet, moderne Architektur im positiven Sinne mit ein bisschen Schicky Micky, elitär, wie es einer modernen, abgehobenen Équipe entspricht.

Die Kostüme von Fanny Brouste bedienen sich leider wieder- wie so oft – des üblichen Alltags- und Durchschnitts-Graus, bis auf die typischen Outfits der gegenwärtigen Politiker und Politikerinnen, deren Ähnlichkeit außerdem durch Gummiköpfe hergestellt wird, unter denen Tänzerinnen und Tänzer nicht nur für den Tanz der Politiker stecken – z. B. unter der Bundeskanzlerin sinnigerweise ein Mann (Choreografie: Oliver Sferlazza). Für raffiniert untermalende Lichteffekte sorgte Fabio Antoci.

Die Musikalische Leitung lag bei Francesco Lanzillotta in zuverlässigen Händen. Als Italiener bringt er das richtige Gespür für Rossinis Musik mit. Er ließ die, wie immer auf hohem Niveau musizierende, Sächsische Staatskapelle Dresden sich konform im Dialog mit den Sängern entfalten, wobei die Musik dem Bühnengeschehen angepasst wurde. Die Liste mit einer stattlichen Anzahl von Sängerinnen und Sängern aus aller Herren Länder (nicht unbedingt immer der verkörperten Nationalität entsprechend) ist lang. Sie erfüllten ihre sängerischen und darstellerischen Aufgaben überzeugend und oft mit unerwartet guten Koloraturen.

Elena Gorshunova sorgte als Corinna mit sehr klangschöner, seelenvoller Stimme für besonnene musikalische Höhepunkte. Maria Kataeva verlieh der Marquise Melibea mit Intensität und perfekten Koloraturen Profil und Tuuli Takala der leicht abgehobenen Gräfin von Folleville pralles Leben. Das „Hotelpersonal“ wurde von der agilen Tamara Gura als Modestina und der als Maddalena vorwiegend sehr leise singenden Menna Cazel gestellt.

Georg Zeppenfeld widmete sich als königstreuer- und traditionsbewusster Lord Sidney wieder einer für ihn neuen Charakterstudie. Edgardo Rocha überzeugte mit Darstellung und Gesang als Graf von Libenskof, Bernhard Hansky als Don Alvaro und Tilmann Rönnebeck als Don Prudenzio. Maurizio Muraro erwies sich in seiner Rolle als Don Profondo als Vollblut-Theatermann mit profunder Stimme und urwüchsigem Spiel. Martin-Jan Nijhof agierte als Baron von Trombonok, Daniel Umbelino als Chevalier Belfiore und Gerald Hupach als Gelsomino. Die Mitglieder des Jungen Ensembles bewährten sich ebenfalls in ihren Rollen: Iulia Maria Dan als Madame Cortese, Beomjin Kim als Don Luigino / Zefirino und Doğukan Kuran als Antonio.

Der Zauberkünstler Joe Walthera und Pafema waren mit den üblichen, hier symbolisch in die Regie-Aussage einbezogen Tricks, wie der aus dem Tuch flatternden (Friedens-)Taube und Kaninchen aus dem Zylinder, nicht gerade aufregend. Vielsagend war nur der unter der EU-Flagge sich abzeichnende Türkenkopf.

Bei dieser Inszenierung blieb von der Originalfassung im Wesentlichen nur Rossinis, gut interpretierte, bei Bedarf auch ein wenig „angepasste“ Musik und die italienische Originalsprache, auch als (ebenfalls leicht angepasste) deutsche und englische Übertitel zu lesen. Das große Bankett am Ende, bei dem jeder einen musikalischen Beitrag aus seiner Heimat vorträgt, mutierte zu einem Wettstreit der Nationalhymnen, und am Ende raubt der plötzlich auftauchende König der EU alle Sterne, einen nach dem anderen, und die Gelbwesten liefern sich mit der Polizei eine Auseinandersetzung. Der Brexit stand im Fokus, und wer noch nicht in den Medien davon genug gesehen, gelesen und gehört hat, der bekommt es auch noch auf der Opernbühne serviert, satirisch durchdacht, versteht sich.

Die ursprüngliche Handlung wurde zum politischen Kabarett großen Stils ausgebaut, amüsant, heiter und doppelzüngig, Hintergründe beleuchtend und durchaus auf hohem (Kabarett-)Niveau, für den unbekümmerten Besucher ein fröhlicher Abend, der der Politikverdrossenheit mit Heiterkeit und Satire begegnet, für den anspruchsvollen Opernbesucher aber ein Spagat zwischen Interesse am Original, auch der originalen Handlung, an der sich Rossini mit seiner Komposition orientierte, und der von Scozzi präsentierten Version mit großen Umdeutungen und kleinen „Erweiterungen“, wenn auch in ihrer Art stimmig und nachvollziehbar. Unter die kurzen, aber heftigen Beifallsbekundungen mischten sich deshalb am Ende auch Buh-Rufe aus zahlreichen Kehlen.

Ingrid Gerk

 

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