Dresden/Semperoper: „FORTSETZUNG DES SCHUMANN- ZYKLUS IM „3. SYMPHONIEKONZERT“ DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT DANIELE GATTI UND FRANK PETER ZIMMERMANN – 12.11.2024
Der unter Christian Thielemann begonnene Robert-Schumann-Zyklus der Sächsischen Staatskapelle fand im 3. Symphoniekonzert der neuen Saison unter dem neuen Chefdirigenten Daniele Gatti seine Fortsetzung mit zwei großen Werken des Meisters, dem „Violinkonzert“ und der Sinfonie Nr. 2“. Doch zuvor wandten sich Dirigent und Orchester mit „Ciel d’hiver“ („Winterhimmel“) der finnischen Komponistin Kaija Saariahos (1952-2023) der Avantgarde zu und zeigten, dass zeitgenössische Musik auch leise, subtil und gefühlsbetont sein kann.
Nach ihrem Studium der Avantgarde an der Sibelius-Akademie in Helsinki, Freiburg im Breisgau und Paris, wo sie sich mit computergestützter Komposition, Arbeit mit Tonband und Live-Elektronik befasste, schrieb Kaija Saariahos preisgekrönte Opern, Orchester- und Kammermusiken, die zu den bedeutendsten und meistgespielten der zeitgenössischen Musik gehören, wie „Verblendungen“, ein Wechselspiel zwischen Orchester und Tonband, „Du Cristal“ und „…à la Fumée“ unter Verwendung von Live-Elektronik und ihr bekanntestes Werk „Graal théâtre“ in einem Stil aus lang gehaltenen Bassnoten und mikrotonalen Intervallen, fand sie in ihren letzten Lebensjahren zu einem Credo, das Avantgarde mit emotionaler Tiefe verbindet.
In diesem Sinn entstand das 10minütige „Ciel d’hiver“, eine 2014 uraufgeführte Bearbeitung des zweiten Satzes eines zwölf Jahre älteren sinfonischen Werkes in einer außergewöhnlichen Mischung aus Klangfarben, atmosphärischer Dichte und subtiler Gefühlsbetontheit. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Kompositionen ist es leise, gefühlsbetont und emotional und erweckt in einer Mischung aus Klängen und kurzen, sich wiederholenden, Melodiestücken mit (zarten) perkussiven Elementen Assoziationen winterlicher Naturbetrachtung, wie kalte Regenspritzer, unberechenbare Windböen und fernes Donnergrollen.
Es begann verhalten mit Streichern und zwei Harfen, die einen konstanten atmosphärischen Klangteppich bildeten, aus dem sich ein sanftes Piccolosolo im Dialog mit der ebenso sanften Violine des Ersten Konzertmeisters erhob, dessen Motiv von verschiedenen Holzbläsern aufgegriffen wurde. Weitere Streicher brachten weitere „Melodiefetzen“ wie die am Winterhimmel dahinziehenden Wolkenfetzen und verstärkten den Klangteppich. Plötzlich leitete ein dissonanter Akkord des gesamten Orchesters einen neuen Abschnitt ein, in dem immer wieder das Motiv anklang und abwechselnd mit perkussiven Einsätzen ferner rollender Donner assoziiert werden konnte, sich ein anhaltender lauter Musikfluss ergoss und nach und nach immer wieder das kurz angespielte Motiv verschüttete, bis es ganz zugedeckt wurde und die Musik entschwand – traumwandlerische Welten, in denen sich suggestive Kraft und poetische Tiefe auf fast malerische Weise verbanden und entfalteten. In eine ganz andere, die romantische Welt des 19. Jahrhunderts, führten dann die beiden Werke von Robert Schumann.
Seit 1992 ist Frank Peter Zimmermann, der bei allen wichtigen Festivals und mit allen berühmten Orchestern rund um den Globus musiziert, oft und gern gesehener Gast bei der Sächsischen Staatskapelle. Erstmals als ein Capell-Virtuose für eine zweite Saison ernannt, spielte er das, von Robert Schumann auf ausdrücklichen Wunsch des jungen, später sehr berühmten Geigers Joseph Joachim innerhalb von 14 Tagen komponierte und später in der Musikwelt kontrovers beurteilte „Violinkonzert d-Moll“, das bisher noch nicht die Popularität des Klavierkonzertes und der Sinfonien erreichen konnte.
Dazu trugen mehrere Fakten bei. Weil es als sein letztes Orchesterwerk 1853, ein Jahr vor Schumanns Aufenthalt in der Nervenheilanstalt in Endenich entstand, haftete ihm lange der unbegründete Makel nachlassender Geisteskraft an, der sich beim Anhören in keiner Weise bestätigt. Joachim wollte es nicht spielen, da er technische Schwierigkeiten – vor allem im Finalsatz sah, an dem auch Clara Schumann einen „Makel“ konstatierte, und in größeren Teilen des Werkes eine Divergenz zwischen spieltechnischem Anspruch und musikalischer Substanz, die auch aus heutiger Sicht nicht ganz zu leugnen ist. Anstelle der von Schumann geplanten Uraufführung wurde Beethovens Violinkonzert gespielt, so dass es in der Öffentlichkeit unbekannt blieb. Schumanns Zeitgenossen schien es kompositorische Schwächen zu enthalten, so dass Clara Schumann und Joachim nach Schumanns Tod entschieden, das Konzert nicht zu publizieren. Es wurde erst 84 Jahre später auf Initiative von zwei Großnichten Joseph Joachims, die in England wirkenden Geigerinnen Jelly d’Arányi und Adila Fachiri, uraufgeführt.
Während der NS-Zeit wurde es zu propagandistischen Zwecken missbraucht und sollte als „deutscher“ Ersatz für das von den Spielplänen gestrichene Violinkonzert von Felix Mendelssohn-Bartholdy dienen. Die späte Uraufführung stieß in Deutschland dann aber auf überwiegend positive Resonanz. Schumann selbst hatte viel von seinem Violinkonzert gehalten. Yehudi Menuhin und auch Hans Pfitzner schätzten es sehr. Inzwischen hat es eine Renaissance und von zahlreichen Fehlern befreite Neuausgabe erfahren.
Wegen der hoch virtuos geführten Solostimme und des vorwiegend lyrischen Charakters hängt auch gegenwärtig sehr viel von den technischen Qualitäten des Solisten und seiner Ausdrucksfähigkeit ab. Zimmermann verfügt über beides in hohem Maße. Da waren keinerlei Schwächen des Werkes spürbar. Er hatte sich in das Werk vertieft. Seine technische Brillanz gab ihm die Möglichkeit einer exzellenten Wiedergabe, die alle Zweifel hinwegfegte und es als durch und durch romantisches Werk in Schumanns ganz persönlichem Kompositionsstil erkennen ließ.
Unter Gattis Stabführung begann es vehement mit echt Schumannschem Temperament, furios und enthusiastisch. Zimmermanns optimal gestaltete Solovioline und das hinzutretende, adäquat mitgestaltende, Orchester in der Orchesterbesetzung der Romantik wirkten wie eine untrennbare Einheit, auch wenn – wie in dem von den Violoncelli klangvoll eingestimmten, langsameren zweiten Satz – Orchester und die oft in tiefer Lage geführte Solovioline mehrfach die melodische Führung und Begleitung, tauschen. Durch Accelerando und dynamische Steigerung führt der zweite Satz attaca zum lebhaften, aber nicht zu schnellen, tanzartigen dritten Satz mit wiederum technisch sehr anspruchsvollem Orchester und dialogisierender Solostimme, die vom wiederkehrenden Hauptthema dominiert wird, das in der nicht vordergründigen, aber deutlichen Hervorhebung den Kreis schloss und das gesamte Violinkonzert „wie aus einem Guss“ erscheinen ließ.
Bis zum Schlusssatz, für den Schumann anstelle eines „abschließenden Feuerwerks“ nach eigenem Bekunden eine „stattliche Polonaise“ von schreitendem Charakter“ vorgesehen hatte, hielt Zimmermann bei wundervoller Tongebung auf „seiner“ Violine, der „Lady Inchiquin“ von Antonio Stradivari (1711) die Spannung, auch bei dem vorwiegend lyrischen Charakter mit immer wieder neuen schönen Klangbildern. Durch das immer wiederkehrende, klar herausgearbeitete und dennoch wie selbstverständlich erscheinende, lyrisch-gesangliche Solothema ergab sich eine durchgehende Linie, der berühmte „rote Faden“, der alles zusammenhielt. Da blieben keine Wünsche offen. Es waren 30 spannende Minuten romantischer Gefühlswelt in einem Solokonzert, das die Auswahl in diesem Genre bereichert, dessen Ausführung aber mehr als bei den sofort „zündenden“ Violinkonzerten von einer sehr guten Ausführung abhängt.
Auf diese exemplarische Wiedergabe des Violinkonzertes folgte ein weiterer Höhepunkt, Schumanns, in den Jahren 1845/1846 nach einem ersten psychischen und physischen Tiefpunkt entstandene „Sinfonie Nr. 2 C-Dur (op. 61), als sich der Komponist gerade erst von seinen Depressionen erholt hatte. Ihn belastete unter anderem, dass sich seine Hoffnungen auf eine Anstellung am Leipziger Gewandhaus nicht erfüllten. Seine Sinfonie wurde dann aber dort unter Mendelssohns Stabführung uraufgeführt. Schumann wollte, wie er sagte, seine Depressionen heilen, indem er Bach studiere und diese Sinfonie schreibe, und das ist ihm gelungen, der Einfluss Bachscher Werke ist unüberhörbar.
Gatti begann mit dem Orchester in zügigem Tempo, das den für Schumanns typischen stürmischen, vorwärtsdrängenden Enthusiasmus in Aufbruchstimmung zeigt. Er hat nicht nur ein Gespür für den speziellen Charakter der Musik Schumanns und dessen Persönlichkeit, sondern auch für den optimalen Einsatz der besonderen Fähigkeiten der Kapellmusiker, die er ganz im Sinne des aufzuführenden Werkes zusammenführt, was besonders im dritten Satz („Adagio espressivo“) bei hoher Transparenz zu einer außergewöhnlichen, in die Tiefe gehenden Wiedergabe führte.
Die Ausdruckspalette für die einzelnen Sätze reichte von träumerisch, sehr vital, vehement im ersten Satz, über einen sehr freundlichen, ansprechenden zweiten Satz mit besonderen Feinheiten, klangvollen ersten Violinen und schlagartig perfektem Schluss aus furiosem Getümmel über den mit besonderer Akribie und Klangschönheit lyrisch fein zelebrierten dritten Satz, bei dem jede einzelne Stimme in ihrer Funktion zur Geltung kam, bis zum wieder temperamentvollen vierten Satz.
Es war Schumann vom Feinsten in schönster Transparenz, die die Stimmen und musikalischen Linien in ihrem Zusammenwirken nachvollziehen und feinste Solopassagen der Instrumente sich entfalten ließ. Gatti und die Musiker der Sächsischen Staatskapelle verstehen sich im gemeinsamen Dienst an der Sache, was zu großen Hoffnungen für die Zukunft berechtigen dürfte.
Ingrid Gerk