Dresden / Semperoper: ERNSTE UND HEITERE WERKE DES 19. UND 20. JAHRHUNDERTS IM „4. KAMMERABEND DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN – 23.1.2025
Der 4. Kammerabend der Sächsischen Staatskapelle Dresden brachte Kammermusikwerke aus der 2. Hälfte des 19. und 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, sehr ernst und sehr heiter, ein Suchen nach neuen Stilrichtungen und ein Wiederentdecken alter, auf der Suche nach Leben dreier französischer und eines österreichischen Komponisten, bekannten und weniger bekannter, beeinträchtigt von zwei Weltkriegen.
„Die Maske des roten Todes“ von Caplet. Foto: Oliver Killig
Wenig bekannt sein dürfte André Caplet (1878 – 1925), ein Schüler Claude Debussys, der sich, nachdem er wegen einer Kriegsverletzung den Posten des musikalischen Leiters an der Pariser Oper aufgeben musste, nur noch dem Komponieren widmete, jedoch nicht wie sein Lehrer im Sinne des Impressionismus, sondern in Annäherung zur Avantgarde.
Er komponierte unter anderem für die moderne Konzertharfe und schrieb 1923 die, von Edgar Allan Poes Erzählung „Die Maske des Roten Todes“ inspirierte, Conte fantastique d’après „Le Masque de la Mort Rouge d’Edgar Allan Poe“, eine „Phantastische Erzählung“ für Harfe und Streichquartett, in der er in der düsteren, gespenstischen Atmosphäre der Geschichte auch seine eigenen Kriegserlebnisse im 1. Weltkrieg verarbeitete. „Blut war der Anfang, Blut das Ende“. Am Anfang der Erzählung stand die Pest, am Ende der Tod – auch all derer, die ihn völlig abgeschottet, mit einem Maskenball ignorieren wollten, und parallel dazu in der Realität Caplets der grausame Tod so vieler Menschen im Krieg.
Seine Komposition wurde – wie bei einer Schauspielmusik – in die mit sehr guter Artikulation und Sachkenntnis von Schauspieler Christian Gaul gelesene, gleichnamige Erzählung integriert, wobei zunächst nur mit drei kurzen Einsätzen die Handlung „illustriert“ wurde. Leise Harfen- und Streicherklänge (Margot Gélie – Harfe, Yuki Manuela Janke – Violine, Michail Kanatidis – Violine, Marcello Enna – Bratsche, Teresa Beldi – Violoncello) „schilderten“ am Beginn kurz die schauerliche Situation und in einem späteren noch kürzeren Einsatz bedeutungsvoll die zwölf Glockenschläge, bei denen der Tod rächend eintritt.
Der Hauptteil dieser berührenden, ausdrucksstarken Komposition, mit der Caplet in Richtung Avantgarde mit den typischen Merkmalen wie Klopfen auf den Instrumentenkörper, Glissandi auf- und abwärts usw. vorstößt, nicht nur, um die schauerliche Atmosphäre der Novelle zu schildern, erklang am Ende der Lesung. Es war eine Entdeckung und Bereicherung des Kammerabends, mit der auch an das traurige Schicksal des Komponisten Andrè Caplet erinnert wurde – 45 Minuten, die betroffen machten.
Im zweiten Teil des Kammerabends bewies die Dresdner Kammerharmonie aus Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle (Andreas Kißling – Flöte, Bernd Schober – Oboe, Wolfram Große – Klarinette, Joachim Hans – Fagott, Robert Langbein – Horn, Liam Dugelay – Klavier) ihre gestalterische Vielseitigkeit. Zunächst erklang das heitere „Sextett B-Dur“ (op. 6) für Blasinstrumente und Klavier von Ludwig Thuille, einem in den Konzertsälen ebenfalls wenig bekannten Komponisten, den Richard Strauss seinen „liebsten, besten, schönsten, herrlichsten Ludwig“ nannte, dessen Kompositionen aber im Gegensatz zu denen seines Jugendfreundes Strauss meist in den Bibliotheken und Archiven blieben. Er bewegte sich zwischen zwei konträren Stilrichtungen, seinem konservativen Lehrer J. G. Rheinberger und der Brahms-Nachfolge sowie den Wagner-Anhängern, was damals schwerer wog als heute und ihm beim Komponieren seines Sextetts Kopfzerbrechen bereitete.
Aus heutiger Sicht wirkte dieses melodien- und ideenreiche Sextett, das sich von Satz zu Satz von einer Fülle neuer, schöner Melodien und musikalischer Bodenständigkeit über Anklänge an heitere Oper bis zu synkopierten Rhythmen und Ragtime-Anklängen bewegt, gerade dadurch reizvoll, zumal es von der Dresdner Kammerharmonie sehr vital, voller Esprit und Temperament und mit sichtlicher Musizierfreude ausgeführt wurde.
In einer ganz anderen Art folgte die Suite „L’heure du berger“ von Jean Françaix, worin er seine Beobachtungen in einer Pariser Brasserie in Musik umsetzt. Nach den dunklen Jahren des 2. Weltkrieges begann in Paris das Leben wieder mit einer neuen Art des Vergnügens – in den Brasserien, wo Françaix oft stundenlang seine Mitmenschen beobachtete und in seiner, diesem Ort gewidmeten Suite In drei Sätzen musikalisch porträtiert bzw. karikiert, im 1. Satz „Les Vieux Beaux“ „die alten Schönlinge“, die sich mit Glissando-Seufzern über die vergangenen guten alten Zeiten unterhalten, im 2. Satz „Pin-up Girls“ besagte Mädchen, die mit verführerischen Lockrufen und grazilen Bewegungen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken suchen, und in 3. Satz „Les petit nerveux“ „die kleinen Nervösen“, die aufgeregt, hektisch, forsch und frech daherkommen, was in der gelösten, augenzwinkernden Widergabe besonders heiter wirkte, als die Musiker mit sichtlicher Freude, schließlich immer schneller und schneller werdend, dem heiteren Ende zustrebten.
Die Musiker der Kammerharmonie haben für alle Art von Musik das richtige Gespür, auch für Françaixs eigenwillige Tonsprache, eine Art Hintergrundmusik a la Brasserie, vom Rhythmus zusammengehalten, die auch im Vordergrund funktioniert. „Musique de Brasserie“, „ernste Musik ohne Ernsthaftigkeit“, wie Françaix es nannte.
Anfang des 20. Jahrhunderts, nach dem 1. Weltkrieg, waren einige Komponisten, unter ihnen Francis Poulenc, die „impressionistischen Nebel“, Tonarten verschleiernden Klangfarbenteppiche“ und „ziellos dahinfließenden Melodien“ leid und gründeten die „Group des Six“, zu der auch Darius Milhaud und Arthur Honegger gehörten, um „wieder mehr Mozart und Scarlatti zu wagen“, eine neue Tonsprache zu entwickeln, die ihre Inspiration allerdings nicht unbedingt in den Konzertsälen, sondern in den Straßen von Paris, den Kaffeehäusern Brasserien und Cabarets fand. Sie wird später als neoklassizistisch bezeichnet werden.
In diesem Sinne schrieb Poulend sein „Sextett für Bläser und Klavier“, eine bunte Mischung aus Klassik, Jazz, Ragtime und Chanson zwischen lieblichen Klängen, leicht elegisch oder von motorischen Rhythmen durchpulst, das von der Kammerharmonie mit viel Engagement und Hingabe gespielt und vom Publikum – wie auch die vorherigen beiden Stücke – mit viel Beifall bedacht wurde, wofür sich die Musiker mit einer sehr heiterten Zugabe bedankten und den Abend fröhlich ausklingen ließen, der so düster begann.
Ingrid Gerk