Dresden/Semperoper: „DIE TEMPELTÄNZERIN / LA BAYADÈRE“, BALLETT – 17.2.2023
Aaron S. Watkin, seit 2006 Ballettdirektor des Semperoper Ballett, hat die Company über die Grenzen Dresdens und Europas hinaus bekannt gemacht und zahlreiche namhafte Choreografen, wie William Forsythe, für die Zusammenarbeit mit dem Semperoper Ballett gewonnen sowie große abendfüllende Handlungsballette des 19. Jahrhunderts inszeniert: 2007 sein erstes abendfüllendes Ballett „Dornröschen“, 2008 „La Bayadère“, 2009 „Schwanensee“, 2011 „Der Nussknacker“ (mit Jason Beechey) und 2016/17 „Don Quixote“. Mit der Spielzeit 2023/24 wird er Dresden nach 17 Jahren sehr erfolgreichen Wirkens verlassen, um die Künstlerische Leitung und Direktion der English Ballett Companie zu übernehmen.
In seiner letzten Dresdner Spielzeit wurde seine Inszenierung des romantischen Ballettes „La Bayadère“ (Pr.: 30.11.2008) wieder aufgenommen (15.2.2023). Die Company tanzt noch einmal in einer Aufführungsserie von 5 Vorstellungen innerhalb kurzer Zeit (bis 5.3.2023) letztmalig die märchenhaft-tragische Liebesgeschichte zwischen der Tempeltänzerin Nikjia, die – entgegen ihren religiösen Verpflichtungen – ihr Herz dem Krieger Solor geschenkt hat, der jedoch Hamsatti, der Tochter des Radscha versprochen ist, getötet wird und ihrem Geliebten nur noch in einer Traumwelt erscheinen kann, bevor sich der Vorhang für immer schließt und das Zugstück für immer vom Spielplan der Semperoper verschwindet. Einige Ensemblemitglieder geben darin noch ihr Rollendebüt, unter anderem in der besuchten 2. Aufführung dieser letzten Serie, der 52. seit der Premiere, Coryphée Anna Nevzorova als Hamsatti und Solist Gareth Haw als Solor.
Vor 14 Jahren bearbeitete Watkin das 1877 entstandene, dem Geist der Romantik verpflichtete, Ballett, das erst ab 1980 außerhalb Russlands als ganzes Ballett bekannt wurde, und schuf mit einer eigenen Choreografie nach Marius Petipa ein opulentes Handlungsballett, das er in traumhaft-märchenhafter Kulisse auf die Bühne brachte. Die farbenprächtigen Bühnenbilder von Arne Walther erinnern an 1001 Nacht, die Kostüme von Erik Västhed in ihrer Farbigkeit an Dinglingers Prunkstück „Der Hofstaat des Großmoguls“ im Grünen Gewölbe. Für die stimmige Lichtregie zeichnet Bert Dalhuysen verantwortlich, für Mise en scène: Francine Watson Coleman. David Colerman schuf die Arrangements.
In einer Folge von optisch sehr wirkungsvollen Szenen in ideal arrangierter Bildgestaltung und Farbkombination ergibt sich zusammen mit den hohen tänzerischen Leistungen und der Musik von Ludwig Minkus (1826-1917), einem österreichisch-ungarischen Ballettkomponisten, Violinisten, Kapellmeister und Pädagogen, der vorrangig in Russland wirkte, ein rauschendes Fest der Sinne, ein traumhaftes Erleben einer berührenden Geschichte, deren Handlung, nur durch kleine Gesten angedeutet und vor allem im Tanz ausgedrückt, immer wieder gefangennimmt, sehr zur Freude der großen Dresdner Ballettgemeinde, zu der – schon wegen der Nähe der Palucca Hochschule für Tanz Dresden auch zahlreiche Kinder und Jugendliche gehören.
Die Musik setzt mit einem gewaltigen Gongschlag ein und entführt in eine märchenhaft-klischeehafte Welt des alten Indien mit seinem Kastenwesen, aber es ist ja ein Märchen, und da ist vieles möglich. Nach einer stark akzentuierten Passage folgen lieblichere Töne, um die erste Liebesszene zu umschmeicheln. Tom Seligman leitete die einfühlsam musizierende Sächsische Staatskapelle, aus deren Reihen sich auch ein sehr schönes Violinsolo (Jörg Faßmann) und ein singendes Cellosolo (Friedrich Thiele) erhoben. Oft ergab sich eine völlige Übereinstimmung zwischen der eingängigen, verträumten Musik mit ihren melodischen Einfällen und den Tanzenden, die stets darauf orientierten, ihre Bewegungen synchron mit der Musik abzustimmen und sogar bei Sprüngen zeitgleich mit der Musik wieder auf dem Boden zu landen.
Leicht wie eine Feder, in ästhetischen, geschmeidig ineinanderfließenden Tanzbewegungen und schönen Figuren, von allen Akteuren am meisten auf der Bühne präsent und von Anfang bis Ende exakt bis in die Zehenspitzen, dazu ausdrucksstark die Handlung unterstreichend, gestaltete Sangeun Lee ihre Rolle als Nikija atemberaubend schön. Ihr zur Seite und mit ihr bei gemeinsamen Figuren beeindruckte Gareth Haw in der einzigen männlichen Hauptrolle als Solor mit sehr exakten, auffallend hohen, weiten und doch kraftvollen Sprüngen und Sprungserien in fließenden Übergängen und edler Haltung, beide große, schöne Gestalten, die solistische Glanzleistungen zeigten und sich gegenseitig in der anspruchsvollen Choreografie, bei der sich, verbunden mit graziler Anmut, Schwierigkeit an Schwierigkeit reiht, ergänzten. Bei ihnen war immer alles im Fluss, geschmeidig und ästhetisch, optisch ein schönes und tänzerisch ein leistungsstarkes Paar.
Anna Nevzorova war als Hamsatti ihrer Rivalin ebenbürtig und erfüllte ihre Rolle mit Anmut und grazilen tänzerischen Figuren. Großartige Leistungen zeigten auch Francesco Pio Ricci als bis zur Selbstaufgabe devoter oberster Fakir und Jón Vallejo als „Das Goldene Idol“. Christian Bauch verlieh dem Kanj, dem Hohen Brahmanen, lebensvolle Gestalt. Eine gute Figur machten auch Carola Schwab und Hannes-Detlef Vogel als Rani und Radscha, die Eltern der Hamsatti und Raquel Martinez als Aja, Hamsattis Dienerin.
Im 19. Jahrhundert war das „Weiße Bild“ in einem Ballett das Wichtigste. Ähnlich wie bei „Schwanensee“ und „Giselle“ gibt es in „La Bayadère“ auch eines, das „Königreich der Schatten“, wenn Solor im Opiumrausch seine geliebte, mithilfe einer Schlange ermordete, Nikija in einem romantischen Bild 18fach (!)sieht. Als feenhaft leichter „Schattenakt“ stellt es einen szenischen Höhepunkt dar, der Ballettgeschichte geschrieben hat, und auch im 21. Jahrhundert noch begeistert, zumal wenn so perfekt getanzt wird, wie hier. 18 Tänzerinnen, eine nach der anderen, erscheinen in gleicher Grazie und schwieriger Pose scheinbar mühe- und schwerelos in einer romantischen Nachtlandschaft, bis sie in verschiedenen Formationen ihr Können zeigen. Die Tänzerinnen „schweben“ mehr in der Luft als auf dem Boden und vollbringen „Spitzenleistungen“ im wahrsten Sinne des Wortes.
Fast 150 Jahre nach seiner St. Petersburger Uraufführung bezaubert das „grand spectacle“ (der Begriff wurde im Frankreich des 19. Jahrhunderts geprägt) mit seinem exotischen Sujet, der Musik von Minkus, den tänzerischen Leistungen und dem Schauwert der Inszenierung noch und immer wieder die Freunde des klassischen Balletts. Es könnte noch lange ein Zugstück sein, aber leider ist nun Schluss.
Ingrid Gerk