„Dresden / Semperoper: “COW“ – EINE SKURRILE BALLETT-CHOREOGRAFIE VON ALEXANDER EKMAN – 12.4.2019
Es war das vorletzte Mal, dass sich für das Ballett „Cow“ des (relativ) jungen schwedischen Choreografen Aleksander Ekmann der Vorhang der Semperoper, an der es seine Uraufführung erlebte (12.3.2016), hob. Im gleichen Jahr erhielt das, nach seiner ersten, im Rahmen des Ballettabends „Nordic Light“ in Dresden gezeigten Arbeit „Cacti“, eigens für das Semperoper Ballett kreierte, ungewöhnliche Ballett „Cow“, „eine Hommage an das Lebensgefühl einer Kuh bzw. einfach nur an das Leben“, den deutschen Theaterpreis „DER FAUST“. Jetzt verabschiedet es sich vorerst an der Semperoper (letzte Vorstellung: 17.4.2019) und damit von der deutschen Ballettbühne.
Wegen seiner unvorhersehbaren, skurrilen, komischen bis zynischen, spaßig-melancholischen Ideen, und seinem schrillem Humor in Verbindung mit einer eigenen Tanzsprache aus modernem und traditionellem Tanz gehört der, 1984 in Schweden geborene, Choreograf, der seine Tätigkeit als Balletttänzer sehr bald aufgab, um seine Choreografien zu kreieren, international zu den einflussreichsten Künstlern des zeitgenössischen Tanztheaters. Mit seinem Ballett „Cow“, in dem er auf aberwitzige Weise, ausgehend vom erdverbundenen Seelenleben einer Kuh, die Dimensionen des klassischen Balletts und der menschlichen Gefühle sehr bühnenwirksam auslotet, hat er endgültig seinen Platz in der deutschen und internationalen Tanzszene gefunden.
Mit viel Fantasie verbindet er kleine Details miteinander, spannt einen großen Bogen um das Ganze und bezieht Schauspielkunst, Film, Sprache und Singen mit ein, um sich mit Kunst und Mensch auseinanderzusetzen und zu hinterfragen, wo die Alltagsprobleme mit ihren alltäglichen Bewegungen enden und wo der Tanz einsetzt. Ein Großaufgebot an Tänzerinnen und Tänzern sorgt für eine „Revue“, bunt wie das Leben. In seiner unverwechselbaren Tanzsprache mit viel Energie und Spaß ist alles drin, witzige Ideen und schnelles Timing, oft abrupt abgebrochene Sprünge und annähernd klassische Ballettfiguren, aber inhaltsleer, ein Abbild unserer Zeit, mit dem Ekman dem Publikum einen Spiegel vorhalten möchte.
Mikael Karlsson schuf dafür unter anderem aus verfremdeten Variationen von „Muh“-Lauten, unartikulierten, gehauchten oder gesprochenen menschlichen Lauten, geräuschvollen Schritten der Tänzer von Trappeln und Trampeln, sonstigen Geräuschen und sogar einem (fast) lyrischen Cellosolo die mu(h)sikalische Grundlage, die das Bundesjugendorchester unter der Leitung von Johannes Klumpp auf Tonträger eingespielt hat, Musik sehr unterschiedlicher Effekte, da man nach Ekmans Meinung auch „im Alltag, beeinflusst von äußeren Geräuschen, in bestimmtem Rhythmus tanzt“.
Er zeichnet auch für Regie, Bühnenbild & Lichtdesign, das eine nicht unwesentliche Rolle spielt (Licht Supervisor: Fabio Antoci), verantwortlich. Andernorts füllte er für „A Swan Lake“ schon einmal die Bühne mit Wasser, hier beschränkte er sich auf eine „Bühnenshow“ mit nur einem überdimensionalen weißen Tuch, den Einsatz von Hubpodien, Scheinwerfern und gekonnten Lichteffekten für effektvolle Bilder und Szenen. Es ist alles drin, was Eindruck und Aufsehen erregen kann.
Die Kostüme schuf der hier weniger, aber in Oslo, Kopenhagen, Brüssel, New York, Paris, London u. a. bekannte dänische Modedesigner Henrik Vibskov, der sich auch für „Cow“ auf elegante bis skurrile, nicht für den Alltag gedachte, Mode verlegt, das „Kleine Schwarze“ – gut sitzende Kleidchen für die Damen und schwarze Anzüge für die Herren -, vor allem aber ausgefallene Hüte von extravagant bis skurril mit Spirale, „Schlummerrolle“ usw. oder Männer und Frauen in großen weiten, weißen Röcken. Die meiste Zeit aber erscheinen die Tänzerinnen und Tänzer wie nackt in ihren speziellen, hautfarbenen Spezial-Bikinis bzw. „Badehosen“, oben ohne oder wenigstens fast (bei den Damen).
Vor dem eigentlichen Beginn erwarten, der in weiß abgedeckte Orchestergraben, zwei weiße, eng aneinandergeschmiegte Stühle auf weißem Rechteck aus Licht und eine vor dem roten Samtvorhang an sichtbarem Seil hängende weiße Kuh den Besucher. Ein paar Laute und dann „robbt“ ein Mann in Schwarz (Christian Bauch) auf die Bühne (die Kuh?), ersetzt den Abendspielleiter, begrüßt das Publikum auf Deutsch und Englisch und bittet das Handy auszuschalten (und damit auch das Gehirn). Dann hebt sich der Vorhang, die Kuh wird hochgezogen und sieht bedächtig auf das kommende Treiben herab, bei dem in ca. 1,5 Std. non-stop elf Szenen mit kuriosen Bezeichnungen sehr unterschiedlicher Kreationen über die Bühne wirbeln, ideenreich gestalteter und vom Semperoper Ballett mit großem Können ausgeführter, Nonsens.
Hinterfragen sollte man das Ganze besser nicht, sondern nur gespannt auf den nächsten absurden Einfall warten, wie auf das sich immer wieder streitende und sich wieder versöhnende Paar in der ersten Szene, zwischen denen ein Kind herunter- bzw. herausfällt (wie sinnig!), das immer wieder gegen eine Wand rennt und schmerzhaft auf den Boden zurückgeworfen wird, ein Mann, der mehrfach unter der Dusche steht, ein immer wieder vorbeiruderndes Pärchen, das das Boot mit schnellen Fuß- und Beinbewegungen antreibt (die auch anders gedeutet werden könnten).
Dann füllt sich die Bühne mit schwarzen Gestalten in besagten kuriosen Hüten. In weiteren Bildern folgen ein gut ausgeführter Pas de deux bis Pas de troix dreier „Stiere“, zunächst zwischen zwei Männern (Julian Amir Lacey, Skyler Maxey-Wert), in den sich eine Frau (Svetlana Gileva) einmischt, ein Pas de deux zwischen Mann und Frau (Sangeun Lee, Christian Bauch), die sich mit vorsichtig tastenden Bewegungen gegenseitig zu erkunden scheinen, eine (Hirch-)Kuh, als die Alice Mariani etwas von ihrem tänzerischen Können zeigen kann, ein weiterer, gut ausgeführter Pas des deux (Svetlana Gileva, Denis Veginy) und „Tanzende“, die mit speziell angefertigten „Kuh-Schuhen“ gezwungen sind, mit viel Lärm und Anstrengung nur auf dem Fußballen zu laufen, da eine Kuh auch nur auf zwei Zehen läuft.
Mit einem Riesenaufgebot an Tänzerinnen und Tänzern wuselt alles in absurden Szenen über die Bühne. Die Beziehungen der Menschen erscheinen stark interkühlt. So perfekt von den Tanzneden mit ihren grazilen, minutiös getakteten Bewegungen ausgeführt, erscheint der funktionierende Mensch als verlorene Kreatur im Weltgeschehen, nur noch ein Kettenglied einer Masse fast mechanisch agierender Gestalten, ein Mechanismus, eine gut funktionierende, formbare Masse, die Bilder, Muster, Strukturen und Situationen auf einer großen, ausgeleuchteten (Welt )Bühne zeichnet, bis wie am Anfang die Bühne mit Menschen in schwarz und Hüten die Bühne bevölkert. Sie ziehen rote Fäden, um ihre „Reviere“ abzustecken und sich behaglich mit Sitzgelegenheit und Bäumchen einzurichten, aber den berühmten roten Faden findet man nicht.
In ihrem emsigen Tun wird es immer ruhiger, dunkler, jeder hat seine Lampe, der „schwarze Mann“ vom Anfang schleicht über den Bühnenhintergrund, ein Zeichen, dass die Zeit läuft und das Ende naht, der Vorhang sinkt, die weiße Kuh kommt von oben wieder herab. Der Kreis hat sich geschlossen. Ist man da einen Kreis gegangen? Dann folgt beruhigend noch ein Lied, gestaltet von Skyler Maxey-Wert, der auch als Tänzer mitgewirkt hat, und Caroline Beach als Gast.
Fazit: Mit welchem Gefühl geht man am Ende nach Hause – alles Muh oder was? „Da ist nichts, nichts – Nothing, nur Kuh“, sagt Ekman, gut synchronisiert in einem eingespielten Film, in dem er sich bis an die Grenzen des menschlichen Daseins verliert, sich bis in die Niederungen und das Niveau (Fußboden) einer Kuh begibt und sich als solche (oder Ochse/Stier?) fühlt, auf allen Vieren durch das Funktionsgebäude kriecht und, begleitet von den Tänzern, die sich, es ihm gleichtuend, nach und nach hinzugesellen, wie ein Pulk durchs Opernhaus schiebt, auf die Straße hinaus, durch die Stadt … – eine Rückentwicklung in die Stammesgeschichte? – Tanz im 21. Jahrhundert! „Wenn der Mensch von der Straße ein Ballett besucht, dann sollte er auch ein unglaubliches und faszinierendes Stück erleben, ein Werk, das ihn wahrhaft bewegt und ihm Welten eröffnet, die er absolut nicht erwartet hat“, formuliert Ekman sein Credo – nur dass die Besucher von der Straße vermutlich kaum unter den Zuschauern waren.
Ingrid Gerk