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DRESDEN/ Semperoper: „CARMEN“ ALS BALLETT IN DER LESART VON JOHAN INGER– Deutschlandpremiere

26.01.2019 | Ballett/Performance

„Dresden / Semperoper: “CARMEN“ ALS BALLETT IN DER LESART VON JOHAN INGER– Deutschlandpremiere – 25.1.2019

Woran denkt man bei „Carmen“? – An erotische Leidenschaft, wenn auch nur als „Strohfeuer“, animalischen Freiheitsdrang, Eifersucht und Tod. Prosper Mérimées Novelle regte nicht nur George Bizet zu seiner weltberühmten Oper an, sondern auch Marius Petipa zu dem Ballett „Carmen et son toréro“ und in Folge auch Künstler wie Roland Petit, John Cranko, Antonio Gades, Mats Ek, Carlos Acosta und nicht zuletzt den schwedischen Choreografen Johan Inger. Sie alle setzten mit ihren Choreografien die Erzählung in reine Bewegung um.

Nach den Einaktern „Walking Mad“ und „Empty House“ stellt Inger mit seinem „Carmen“-Ballett nun an der Semperoper seine dritte Arbeit vor, die als zweite Ballett-Premiere der Saison nach der Madrider Uraufführung (2015) durch die Compañía Nacional de Danza und bei einem Gastspiel im November 2018 im schweizerischen Basel damit in Dresden auch ihre Deutschlandpremiere hatte. Das Semperoper Ballett wird mit diesem, 2016 mit dem Prix du Benois de la Danse ausgezeichneten, Ballett erstmals beim Adelaide Festival of Arts, Australia (8., 9., 10.3.) gastieren.

Inspiriert von der Musik Georges Bizets und Rodion Schtschedrins konzentriert Inger den Blick auf Grausamkeit und Unschuld in zwei Gestalten, Don José (Jón Vallejo) und eine zusätzlich eingeführte Knabengestalt (Anna Merkulova), die anfangs in unschuldiges weiß gekleidet, ballspielend, während eine (Kirchen?-)Glocke „Die Liebe vom Zigeuner stammt …“ „klimpert“, von dunklen Gestalten (dunklen Mächten?) umfangen wird, die in Leidenschaft und Gewalt eskalierende Handlung verfolgt und schließlich am Ende verstört und gezeichnet fürs Leben, nunmehr in schwarz gekleidet, symbolhaft eine Puppe wie Carmen en miniature zerrupft, eine Absage an die Liebe zu einer Frau, die einen Mann nur ruiniert?

Es kann viel hineininterpretiert werden in diese „geheimnisumwitterte“ Kinder-Figur, die sich nur durch entsprechende Erläuterungen erschließt. Unbedingt nötig für die sonst so schlüssige Handlung wäre sie eigentlich nicht. Sie verkompliziert das Ganze eher. Offenbar genügt es schon nicht mehr, Seelendramen und Gewalt von Erwachsenen für Erwachsene auf die Bühne zu bringen, die schon zu sehr durch die Medien, Film und Fernsehen daran gewöhnt, abgestumpft und kaum mehr zu erschüttern sind.

Die Inszenierung (Bühnenbild: Curt Allen Wilmer) verwendet die nach Jahrzehnten immer noch üblichen „Bauelemente“, eine mit verschiebbaren („Schrank“)Elementen sparsam dekorierte Bühne, Spiegel (zur Wiederspiegelung der Seelenzustände?), rötliches Neonleuchtband und dunkle bis schwarze Kostüme (David Delfin), aufgehellt durch ein besonders schönes Kleid der Protagonistin, hier vervielfacht für die Zigaretten-Arbeiterinnen in hübschen Rüschen-Kleidchen in verschiedenen Farben von weiß über rot für Carmen bis zu schwarz für die von ihr verletzte Kontrahentin und später nur noch Röckchen – wie scheinbar „oben ohne“. Das kommt einem spanisch vor, aber offenbar sind hier die Mädchen nur reine Verführungs-„Objekte“ in der Fantasie der Männerwelt, die nichts mit (Fabrik-)Arbeit im Sinn haben. 

Inger verwendet in seiner Choreografie immer noch und immer wieder die gleichen und ähnlichen, seinerzeit als Gegenbewegung zum klassischen Tanz entwickelten tänzerischen Elemente, die er in den Dienst einer intensiven, psychologisch durchdachten Handlung stellt, in der sich der Mensch als Kreatur inmitten von äußeren Einflüssen befindet, in der Gewalt ihn drangsalierender, dunkler Mächte, die er nicht steuern kann und vergeblich abzuschütteln versucht (Depressionen?), gespickt mit weiteren Gewaltszenen, wie die zwischen Don José und dem Offizier Zúniga (Joseph Hernandez) oder seinem Rivalen, dem Torero (Joseph Gray).

Es gibt kaum besondere Schwierigkeiten, keine bravourösen Szenen, nur zahlreiche „Gänge“, Gehen, Trippeln, Laufen, wie Raupen über die Bühne rollen und ruckartige Bewegungen, immer und immer wieder gleiche und ähnliche Passagen in abgewandelter Form und einige simple sportliche Elemente, wie die „Kerze“, die (fast) jedes Kind einmal probiert hat, aber alles mit durchtrainierten Körpern, Kondition und sich auch steigernder Schnelligkeit von den Tänzerinnen und Tänzern korrekt ausgeführt. Die Semperoper Company könnte eigentlich noch mehr und scheint hier unterfordert, konzentriert sich aber auf den Ausdruck. Lediglich einige ansprechende Hebefiguren, bei denen die japanische Coryphée Ayaha Tsunaki als Carmen eine gute Figur macht, beleben die Szene. Am Ende steht sie als Carmen (fast) nackt da (im hauchdünnen rosa Trikot), fühlt sich „ausgeliefert“ und entschwindet in den Hintergrund. José hält ihr rotes Kleid wie ein getötetes, blutüberströmtes Tier in den Händen, bis er es gedankenverloren fallen lässt …

Das Besondere der Inszenierung liegt darin, dass Choreografie, Bühnenbild, Kostüme und Beleuchtung (Tom Visser) minutiös zu einer Einheit verbunden sind, um den „Carmen“-Soff eindringlich, intensiv und anders zu bringen. Szene folgt auf Szene, darunter gute Gruppenszenen mit und ohne Geräuschkulisse wie Händeklatschen usw. Hier wird vor allem eine Handlung aus psychologischer Sicht in einer Jahrzehnte alten Machart erzählt, die wieder neu belebt und ganz in den Dienst der Handlung gestellt wird. Langeweile kommt da nicht auf. Alles ist immer in Bewegung und Spannung. Der Betrachter ist optisch und akustisch ständig beschäftigt. Wenn man die Oper und/oder Novelle kennt, erschließt sich die Handlung mühelos. Andererseits hat man aber auch Jugendliche, die das Ballett zum ersten Mal sahen, murren hören, dass sie nichts verstehen. Es wird immer betont, dass die Jugend angesprochen werden soll, aber fast alle neuen Inszenierungen setzen viel Kenntnis des umgesetzten Stoffes voraus und sind deshalb doch mehr für „alte Hasen“.

Musikalisch beginnt der Abend mit viel Schlagzeug. Später kommen gefühlvolle Passagen sowie Geräusche und unartikulierte, zu den Bewegungen der Tanzenden passende Laute und hämmernde Rhythmen hinzu – eine gewöhnungsbedürftige Mischung. Grundlage der Musik sind Ausschnitte aus der „Carmen-Suite“ von Schtschedrin, Komponist und Pianist und Ehemann von Maya Plissetskaja, der einstigen Primaballerina des Bolschoi Theaters Moskau, die seinerzeit den kubanischen Tänzer Alberto Alonso um eine Choreografie bat. Schtschedrin arrangierte 1967 die bekanntesten „Nummern“ aus Bizets Oper neu und instrumentierte sie – rhythmisch pointiert – für Streicher und insgesamt 47 Schlaginstrumente (!), um den Melodien und der Atmosphäre der Musik Bizets eine elementare und treibende Wucht zu verleihen und die Handlungsabläufe zu verdichten.

Um aus der Suite ein abendfüllendes Ballett zu machen, Ingers erstes, erhielt der spanische Komponist Marc Álvarez den Auftrag für eine Komposition, die vom Band eingespielt, die psychischen Probleme Josés illustriert. Im Gegensatz zur Uraufführung in Madrid spielt in Dresden die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der Musikalischen Leitung von Manuel Coves die Teile aus Schtschedrins Suite live in der ihr eigenen Qualität und hat oft Pause, um sich die vom Band in nicht so guter Qualität eingespielten Geräusche und Zitate von Bizet anzuhören.

War seinerzeit Bizets Oper (1875) und auch Schtschedrins „Carmen-Suite“ bei der Uraufführung kein sonderlicher Erfolg beschieden, überschlugen sich bei dieser Premiere die „Fans“ mit lautem „Gejohle“ ohne artikuliertes „Bravo“, „Brava“ oder „Bravi“. Bliebe nur zu hoffen und zu wünschen, dass die vor Begeisterung fast „außer Rand und Band“ geratenen Besucher auch möglichst oft die weiteren Vorstellungen besuchen, damit es nicht heißt: „bejubelte Premiere und dann gähnende Leere“ – im Zuschauerraum.

Ingrid Gerk

 

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