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DRESDEN/ Semperoper: BEETHOVENS „NEUNTE“ IM „SILVESTERKONZERT“ DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN UNTER CHRISTIAN THIELEMANN

31.12.2022 | Konzert/Liederabende

 Dresden/Semperoper:  BEETHOVENS „NEUNTE“ IM „SILVESTERKONZERT“ DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN UNTER CHRISTIAN THIELEMANN – 30.12.2022

Nichts wird so verschiedenartig gefeiert wie der Abschied vom alten Jahr, auch bei den klassischen Silvesterkonzerten. Bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden ging es bisher ebenfalls sehr unterschiedlich zu, meist heiter von Operette bis Musical oder „klassisch“. Zum vergangenen Jahresende fand das traditionelle „Silvesterkonzert“ erstmals an drei Abenden statt (29., 30., 31.12.2022). Der Mitschnitt der ersten Aufführung (29.12.) wurde am gleichen Abend im ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen) gesendet.

Auf dem Programm stand die „Symphonie Nr. 9 d‑Moll op. 125 von Ludwig van Beethoven, dieses großartige symphonische Meisterwerk, das bei der Uraufführung revolutionierend wirkte und jetzt weltweit eines der populärsten Werke der klassischen Musik darstellt. Der Brauch, den Jahreswechsel mit der „Neunten“ zu feiern, geht auf Arthur Nikisch zurück, der zu Silvester 1918 die Symphonie zu einer „Friedensfeier“ vor tausenden Zuhörern aufführte und das „Freudenthema“ genau um Mitternacht erklingen ließ.

Wie bei den Silvesterkonzerten der Staatskapelle üblich, war das „große Konzertzimmer“ nach den Originalplänen von Gottfried Semper als Weiterführung der Architektur des Zuschauerraumes aufgebaut und wurde allmählich in magisches Licht getaucht, das während des Konzertes dezent wechselte, immer sehr geschmackvoll dem jeweiligen Charakter der Musik angepasst.

Christian Thielemann stand am Pult und prägte die Aufführung mit seiner „Handschrift“. Er beschönigte nichts, setzte bewusst die Partitur realistisch, gestochen scharf, exakt bis zum Äußersten und wunderbar transparent um, begann mit aller Vehemenz den mächtig und hart empfunden ersten Satz, ließ die martialischen Passagen mit ausdrucksstarker Wucht in grandiosen dramatischen Steigerungen, Brüchen und lautstarkem Fortissimo wirken und setzte Crescendi, variierende Lautstärke und Tempi sowie die Generalpausen zur Realisierung der enormen Ausdruckskraft ein, die der Symphonie immanent ist.

Kontrastierend dazu ließ er die ruhigeren, lyrischen Passagen, insbesondere der „Coda“, bis zum trauermarschartigren Thema von der Staatskapelle mit ihren klanglichen Qualitäten bis hin zum feinsten Pianissimo gestalten. In einer breiten Ausdruckspalette entstand der spannungsreiche Widerstreit gegensätzlicher Welten, von der „Außenwelt“, die bedrohlich und mächtig gegen die „Innenwelt“, das menschliche Empfinden, angeht, vom Chaos bis zur Friedens- und Freudenbotschaft.

Die Kapelle folgte ihm bedingungslos und setzte ihre speziellen Fähigkeiten und Feinheiten in den gegebenen Situationen ein, mit feinen sensiblen Streichern, insbesondere der ersten Violine und der Bratschen, sauberen und klangvollen Oboen, Klarinetten, Hörnern, Fagott und Trompeten, solo und tutti, und Pauken mit bedrohlichem „Donnergrollen“ in „schauriger Schönheit“.

Der dritte Satz wirkte als ruhende Mitte im Gesamtwerk, bevor der ungewöhnlich lange vierte und letzte Satz, sehr fein, sehr sanft, den Klang „zelebrierend“, instrumental mit Hörnern und Streichern begann, zunächst mit einigen Dissonanzen der Bläser, die Wut und Verzweiflung widerspiegeln, dann die Freude vorwegnehmend, bis alles wieder zurück ins unkontrollierte Chaos mit heftigen Dissonanzen fällt, bis die Baritonstimme dem Ganzen Einhalt gebietet.

Georg Zeppenfeld leitete mit seiner flexiblen, wohlklingenden Bassstimme, sehr klarer Artikulation, sehr guter Textverständlichlkeit und ausgezeichneter Diktion bis in jedes Detail den Übergang zur menschlichen Stimme ein, die sich musikalisch gleichberechtigt aus dem Orchester erhebt. Seine Partie war bei jedem Wort, jedem Ton mühelos nachzuvollziehen. Er versteht, was er singt, und vermittelt es so bewusst oder unbewusst den Zuhörern.

Das immer heikle Solistenquartett, das bei mancher Aufführung an anderer Stelle mitunter mehr Verdruss als Genuss bereitet, war hier mit sehr guten, bekannten und bewährten Sängerinnen und Sängern besetzt, deren Stimmen zusammenpassten und sowohl solo gut zur Geltung kamen, als auch im Zusammenklang bestens harmonierten.

Die ursprünglich vorgesehene Hanna-Elisabeth Müller musste leider wegen Krankheit absagen. Bei der ersten Aufführung hatte Camilla Nylund die Sopranpartie übernommen, an den beiden anderen Abenden Elena Stikhina, die sich mit ihrem etwas anderen Timbre in das sehr ausgewogene Solistenquartett einfügte und als Sopran angemessen dominierte, ohne vordergründig zu wirken. Obwohl die Altstimme mehr begleitende, untermalende Aufgaben hat, verlieh Christa Mayer den Ensembleszenen jenen fundierten Halt, der mehr unbewusst wahrgenommen wird und doch so wichtig ist. Mit ihrer warmen wohlklingenden Stimme trug sie wesentlich zu einen ausgewogenen, wohltönenden Gesamtklang bei. Klaus Florian Vogt sang, gut bei Stimme, sehr klar und sicher und „siegte wie ein Held“.

Eine Herausforderung ist die „Neunte“ immer auch für den Chor. Der Sächsische Staatsopernchor Dresden, der mit äußerster Disziplin, nicht zu überbietender Exaktheit und Perfektion seine Aufgabe wahrnahm, vollbrachte hier eine ungewöhnlich bestechende Leistung. Die einzelnen Stimmen verschmolzen zu einer einzigartigen perfekten Einheit wie ein einziger Organismus – Einstudierung: André Kellinghaus.

Es war eine grandiose Wiedergabe, bei der Beethovens populärstes Orchesterwerk, seine wohlbekannte „Neunte“, obwohl schon oft in den verschiedensten Varianten, Lesarten und Deutungen gehört, wieder neu zu entdecken und zu erleben war als das radikalste symphonische Werk der Musikgeschichte. Hier war deutlicher denn je die existenzielle Wucht zu spüren, die in der Symphonie steckt und die auch bei der Uraufführung dem Publikum den Atem stocken ließ, wenn im Finale plötzlich und völlig unerwartet menschliche Stimmen die harmonischen Wendungen übernehmen.

Ingrid Gerk

 

 

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