Dresden / Semperoper: ANTONIO PAPPANO BEI DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN IM 2. SYMPHONIEKONZERT – 9.10.2020
Antonio Pappano, Musikdirektor am ROH London und seit 2005 musikalischer Direktor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia Roma, stand zwar nicht zum ersten Mal bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden am Pult, aber es war doch schon länger her, dass er in Dresden war, so lange, dass sich die meisten Musikfreunde nicht mehr daran erinnerten. Jetzt leitete er das 2. Symphoniekonzert, bei dem ursprünglich die schon lange erwartete, 7. Symphonie von Gustav Mahler vorgesehen war, aber Corona verhinderte auch das.
Das „Ersatzprogramm wurde zum besonderen Ereignis. Es enthielt drei Werke des französischen Impressionismus und der deutschen Romantik, die noch von Aufführungen in vergangenen Symphoniekonzerten in guter Erinnerung waren – aber wie man sie jetzt neu hörte! Pappano verstand es, die besonderen Fähigkeiten der Kapellmusiker so einzusetzen und zu einem organischen Ganzen zu verbinden, dass alle drei Werke in ungewöhnlicher Klarheit, Präzision und Lebendigkeit erstanden und in ihrer ganzen Intensität erfassbar und erlebbar wurden.
Mit schwebend feinen, traumverlorenen Flötentönen, in die allmählich die Orchestermusiker mit sanften Harfenklängen, klangschönen Holzbläsern, gedämpften Hörnern und Violoncelli einstimmten, wurde man in die ganz spezielle fantastisch-romantische Welt von Claude Debussy und seinen „Prélude à l’après-midi d’un faune“ nach einem Gedicht von Stéphane Mallarmé entführt, wie man sie in solcher Plastizität kaum je zuvor gehört hat. Pappano fing mit dem Orchester, das ihm in jeder Phase folgte und mit ihm auf gleicher Wellenlänge lag, eine differenzierte, vielfarbige, im wahrsten Sinne des Wortes sagenhafte, von Nymphen, Najaden und Faun „belebte“ Natur in vielen, sich entwickelnden und verdichtenden, Klangfarben und modulierender Harmonik ein.
Es war ein Flimmern und Flirren, ein Glitzern und Schweben, ein Wiegen und Wogen, ein Schillern und Schimmern, mit denen die märchenhaften, romantischen Naturvorstellungen Debussys in einer Folge von Bildhintergründen, vor denen die Handlung in der Fantasie abzulaufen schien, Gestalt annahmen. Debussy war so von seinen Fantasievorstellungen besessen, dass er sich zu der Äußerung hinreißen ließ, Beethovens „Pastorale“ sei „der Irrtum eines Menschen an der Natur“, verkennend, dass Beethoven nicht die Natur – und schon gar nicht eine romantische – schildern wollte, sondern die Gefühle eines Menschen (Städters) bei seinem Eintritt in Natur und Landleben – aber zurück zu Debussy. Pappano zauberte mit dem Orchester eine träumerische Stimmung, die süßen Träume und Wünsche des Fauns an einem schwülwarmen Nachmittag schildernd.
Zu „müde, die schamhafte Flucht der Nymphen und Najaden zu verfolgen, überlässt er sich dann trunkenem Schlummer, erfüllt von endlich verwirklichten Wunschträumen von völligem Besitz inmitten allumfassender Natur“ wie er es selbst formulierte. Pappano ließ die „Handlung“, die eigentlich kaum eine ist, denn das Stück lebt vor allem von Stimmungen, in einer großen unauffälligen dynamischen Steigerung vom feinstem Pianissimo am Beginn bis zu expressiver Ballung in dem Moment, wo der Faun eine Nymphe zu fassen glaubt, und wieder langsam decrescendo bis zu einem sehr feinsinnigem Schluss erstehen – eine „himmlisch“ schöne, beeindruckende Interpretation, ein außergewöhnlicher Hörgenuss und geistiges Erleben.
Ähnlich plastisch, klar und durchsichtig, wenn auch mit ganz anderem Charakter, erstanden die Märchenbilder in Maurice Ravels Suite für Orchester „Ma mère l’oye“ nach Märchenmotiven des Dichters Charles Perrault aus dem 17. Jahrhundert, ursprünglich für Klavier zu vier Händen komponiert und später orchestriert, beides bewusst einfach und durchsichtig gehalten, um die „Poesie der Kinderwelt“ wachzurufen und die, den deutschen Märchen nicht unähnlichen, Märchen, die „Mutter Gans“ ihren „Kindern“ erzählt, auch für Kinder verständlich zu machen.
Pappano verstand es auch hier, in einer perfekten Balance zwischen naiver Kinderfantasie und zauberhafter, kontrastreicher Instrumentierung, die Märchenbilder mit den Mitteln der Musik sichtbar- bzw. hörbar zu machen, so dass man unwillkürlich Bilder von Märchen vor Augen hatte, ohne genau zu wissen welche, den Auftritt eines bedrohlichen Wesens, bei dem das Orchester dramatisch aufbrauste und die ängstlichen Gegenspieler aufgeregt zitterten, inclusive. Die Kapelle folgte ihm mit der ihr eigenen Feinheit und Akribie – ein Hörgenuss der besonderen Art, bei dem keine, auch noch so kleine Feinheit unterging.
In eine ganz andere Klangwelt führte nach diesen träumerischen fantasievollen Kompositionen, (coronabedinhgt) ohne Pause, die “Symphonie Nr. 2 C‑Dur“ (op. 61) von Robert Schumann. Pappano lässt sich die Spezifik jeder Stilrichtung, jedes Komponisten und jedes Werk angelegen sein. Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Werken ging er hier „con fuoco“, mit Feuer und Temperament ans Werk, ganz im Dienst der Komposition, ohne unangebrachte Euphorie oder Lautstärke und dennoch grandios in der gesamten Wiedergabe.
Da stimmte einfach alles. Er spannte den der Symphonie immanenten grandiosen Bogen vom Beginn bis zum Ende, klassisch-romantisch klar und mit schönen, liebevoll ausmusizierten Details, feinen Instrumental-Soli, feinsten Piani und dezent fließenden Übergängen. Was an Klarheit und Präzision, aber auch Vitalität und plastischem Erleben für die beiden vorangegangenen Kompositionen galt, wurde hier in großem Maßstab fortgesetzt. Eine weit gespannte Ausdrucksskala von herzhaft sprudelnd, innig, überschwänglich, kraftvoll, leidenschaftlich und poesievoll ordnete er der grandiosen Wiedergabe unter.
Es war, als hörte (und verstand) man alle drei Werke zum ersten Mal. In (fast) 90 erlebnisreichen Minuten hatte Pappano mit dem Orchester Leben eingefangen und einen noch intensiveren Zugang zu den vermeintlich bekannten Werken geschaffen, die an diesem Abend neu entdeckt werden konnten.
Ingrid Gerk