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DRESDEN/ Semperoper: 9. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT SEMYON BYCHKOV

19.04.2018 | Konzert/Liederabende

Dresden / Semperoper: 9. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT SEMYON BYCHKOV 16.4.2018

 

Für den erkrankten 1. Gastdirigenten Myung-Whun Chung übernahm Semyon Bychkov das 9. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Er war von 1999 bis 2003 Chefdirigent dieses Orchesters, dann ruhte die Zusammenarbeit über 15 Jahre. Jetzt kehrte er ans Pult der Staatskapelle zurück – mit einer kompletten Programmänderung. Statt der ursprünglich vorgesehenen Werke von Arvo Pärt (Symphonie Nr. 4 „Los Angeles„), Claude Debussy („La mer“) und Maurice Ravel („La valse„) standen nun zwei große, sehr gegensätzliche Sinfonien auf dem Programm.

 Mit der “Sinfonia für 8 Singstimmen und Orchester“ von Luciano Berio brachte Bychkov ein gewichtiges Werk des 20. Jahrhunderts nach Dresden, „ein musikalisch innovatives postseriales klassisches Werk“. Von der Sächsischen Staatskapelle Dresden wurde es zum ersten Mal aufgeführt. 1968/69 als Auftragswerk der New Yorker Philharmoniker anlässlich ihres 125jährigen Jubiläums komponiert und Leonard Bernstein gewidmet, setzt sich Berio in einer Zeit großer gesellschaftlicher Bewegungen in seinem zunächst viersätzigen, später fünfsätzigen Werk unter Verwendung übereinander geschichteter Zitate bedeutender Komponisten der jüngeren Vergangenheit mit dem Material der Musikgeschichte auseinander.

 Er zitiert Bach und mit „Rosenkavalier“-Walzer-Seligkeit unmissverständlich Richard Strauss und, und, und … bis hin zu Mahlers 2. Symphonie und der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg und fügt im Zusammenklang von menschlicher Stimme und Instrumenten zitierte Textfragmente von Claude Lévi-Strauss oder Samuel Beckett ein, die gar nicht immer verständlich sein sollen, bis hin zu Tonbandaufnahmen und Solfège-Bruchstücken als Material. Mittendrin vermeinte man sogar die Worte „Thank You Mr. Bychkov“ vom „Chef“-Sprecher zu vernehmen.

 Mit dem gewaltigen Aufwand eines riesigen Orchesterapparates, einschließlich reichlich Schlagzeug und zusätzlicher Instrumente wie Cembalo, Orgel, Piano und Saxophone und den in die Musik integrierten Stimmen, war es kein leichtes Werk, vor allem für das Publikum.

 Die menschlichen Stimmen wurden von den mit der Moderne vertrauten Damen und Herren des renommierten Ensembles London Voices ausgeführt, die im Halbrund vor dem Orchester sitzend und sich über musikalische (und andere) Themen äußernd, Texte und Wortfetzen in Originalsprache sowie unartikulierte Laute – alles mit Präzision – gut artikuliert in ihre Mikrofone sangen, sprachen, flüsterten, hauchten und riefen, was dann in seitliche Lautsprecher übertragen und „ausgestrahlt“ wurde, während sich die „Sinfonia“durch eine „scheinbar neurotische Reise“ von musikalischen Zitaten und dissonanten Passagen bewegte. Orchester und Stimmen beeinflussten sich gegenseitig. Es war immer alles im Fluss.

 Die Musiker der Staatskapelle engagierten sich mit vollem Einsatz und ihrem großen Können. Es gab massive Lautstärken, es „klirrte“ und „scherbelte“, und hin und wieder waren auch melodische Anklänge zu vernehmen – Ordnung und komponiertes Chaos. Bychkov behielt den Überblick – er wird das Werk am kommenden Wochenende auch mit den Münchner Philharmonikern aufführen -, aber so sauber, klar und bestens abgestimmt auch interpretiert wurde, leicht zu verstehen, war es nicht.

 Während diese „schwere Kost“ für das Publikum neu und nur schwer zu „konsumieren“ war, ist die relativ oft aufgeführte „Symphonie Nr. 5 e-Moll“ von Pjotr I. Tschaikowskys, die nach der erholsamen Pause erklang, sehr bekannt und noch mehr beliebt, auch Bychkov hat sie an dieser Stelle schon dirigiert. Bei diesem erschütternden, schicksalhaften, sehnsuchts- und hoffnungsvollen Werk, das seinerzeit ebenfalls epochal war, indem es den damals herrschenden Symphonietypus in Frage stellte, ohne dass es sein Verfasser lautstark verkündete, konnten die Musiker ihre besonderen Fähigkeiten wirkungsvoll entfalten.

 Sehr empfindsam, bis zu sanftem Versiegen der Töne als Ausdruck der „völligen Ergebung in das Schicksal oder, was dasselbe ist, in den unergründlichen Ratschluss der Vorsehung“ ließ Bychkov sofort die ganze Tragik des Werkes erkennen. Schon mit wenigen Tönen wurde viel gesagt. In einer großen Steigerung bis zum Fortissimo als Ausdruck der aufgewühlten Seele gab es auch Lautstärken, die gewisse klangliche Härten (wie bei jedem Orchester) zur Folge hatten, aber sie gingen als logische Folge aus der gesamten musikalischen, sehr emotionsgeladenen Entwicklung hervor.

 Der 2. Satz begann in Düsternis, aus der Bychkov folgerichtig die sensiblen Emotionen und Gedanken aufbaute, die auch bei scheinbar heiteren und selbstbewussten Momenten mit „Murren, Zweifel, Klagen, Vorwürfen“ immer wieder zunächst unterschwellig auftauchten und sich dann bis in den Vordergrund „vorschoben“, auch bei der scheinbaren Fröhlichkeit und einer Art Walzerseligkeit im 3. Satz, der mit sehr harten „Schlägen“ endete.

 Der besondere Klang der Kapelle kommt naturgemäß im Mezzoforte, Piano und Pianissimo, am besten zur Geltung, wie auch die schönen, empfindsamen Instrumentalsoli. Einer der Solisten, der Solo-Tubaist, wurde am Ende des Konzertes in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet, was wenigstens aus dem „Beipackzettel“ im Programmheft ersichtlich war. Die anderen Konzertbesucher wunderten sich, was da im Hintergrund als kleine Zeremonie stattfand. Immerhin erinnert man sich wieder an die schöne Sitte der Verabschiedung, die früher vom Intendanten (oder einem Vertreter) mit freundlichen, für alle verständlichen Worten im Vordergrund stattfand.

 Bychkov hatte das Werk als grandioses, immer wieder aufgewühltes und aufwühlendes Seelendrama angelegt, durchzogen von dem gemeinsamen Leitthema, dem Schicksalsmotiv, das immer wieder sehr klar und in verschiedenen Abstufungen und Schattierungen auftauchte. Der 4. Satz, der die Hoffnung auf Erlösung und Versöhnung mit dem Schicksal enthält, wurde von ihm bis zur äußersten Steigerung und damit logisch und folgerichtig bis zu höchster Lautstärke und Ekstase im sieghaft angelegten, triumphalen Schluss ínterpretiert und mündete in einen „glücklichen“ Taumel, ein allgemeines „Erfolgsrezept“, das von vielen bedeutenden Dirigenten immer wieder angewendet wird (mit Ausnahme von Christian Thielemann, dem das Anliegen des Komponisten wichtiger ist) und seine Wirkung nicht verfehlt. Beim Publikum löst es mit konstanter Sicherheit Begeisterungsstürme aus.

 Ingrid Gerk

 

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