Dresden/Semperoper: „4. SYMPHONIEKONZERT“ DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN OHNE CHRISTIAN THIELEMANN – 13. und 15.11.2022
Seit international bekannt wurde, dass das sächsische Staatsministerium einen Glücksfall wie Thielemann als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden nicht nur nicht zu schätzen weiß, sondern ohne triftigen Grund seinen Vertrag nicht verlängern wollte, kann er sich vor Angeboten anderer Orchester kaum noch retten. Da zu viel Arbeit bekanntlich aber auch krank macht, musste er jetzt wegen gesundheitlicher Probleme das 4. Symphoniekonzert mit seiner Dresdner Kapelle und auch die anschließende Tournee leider absagen. So schnell konnte jedoch kein „Ersatz“ für die komplette Übernahme der dreimaligen Aufführung des Symphoniekonzertes und die Tournee gefunden werden, so dass aus der Not eine Tugend gemacht und das Konzert auf zwei verschiedene Dirigenten, beide bereits mit Erfahrungen mit der Kapelle, aufgeteilt wurde, was auch unterschiedliche Programmen zur Folge hatte.
Das Konzert am Sonntag Vormittag (13.11.) übernahm der aus Nordossetien stammende, inzwischen international bekannte, Dirigent Tugan Sokhiev, der auch das 5. Sinfoniekonzert der Staatskapelle (18., 19., 20.12.) leiten wird. Er änderte das, ursprünglich dem 175. Todestag von Felix Mendelssohn-Bartholdy gewidmete Programm für diesen Tag in das „Konzert für Violine und Orchester D‑Dur (op. 61) von Ludwig van Beethoven und die „Symphonie Nr. 1 c‑Moll“ (op. 68 ) von Johannes Brahms.
Die geniale, äußerst vielseitige Julia Fischer, die derzeitige Capell-Virtuosin der Sächsischen Staatskapelle, die seit 20 Jahren zur Spitze der Geigenelite weltweit gehört, außerdem als Pianistin Klavierkonzerte in gleicher Güte spielt, sich als enthusiastische Kammermusikerin engagiert, Orchester von der Violine aus leitet, sich als renommierte Kulturbotschafterin einbringt und als Professorin der Förderung des musikalischen Nachwuchses widmet, hatte nicht nur den Solopart in Mendelssohns Violinkonzert übernommen (14. und 15.11.), sondern bereicherte das erste der drei Konzerte (13.11.) mit einer sehr eindrucksvollen Wiedergabe des Beethoven-Violinkonzertes, etwas anders, als gewohnt, weniger kraftvoll, als vielmehr die sanfte, feminine, wenn man so will, auch romantische Seite betonend. In ihrer spezifischen Wiedergabe machte sie es zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Technische Probleme gibt es bei ihr nicht. Mit selbstverständlicher Sicherheit meistert sie alles perfekt vom feinsten, zartesten, fast zerbrechlichen, gerade noch hörbaren und doch tragenden Pianissimo (ihre „Spezialität“) bis zum energischen, ausdrucksvollen Forte. Mit Exaktheit, großer Klarheit, und natürlicher Musikalität und Musizierfreude meisterte sie alle Schwierigkeiten, beeindruckte mit klangvollen Doppelgriffen und einschmeichelndem Klang, der alles bestimmte, begeisterte beim ausgelassenen „Rondo“ und den sehr virtuosen, außergewöhnlich ausdrucksstarken Kadenzen, bei deren zweiter sie wahre „Hexenkünsten“ sehen und vor allem hören ließ, am Schluss diminuendo und decrescendo ausklingend, um in die anschließenden sehr feinsinnigen, sensiblen Passagen überzuleiten.
Bei ihr klang alles wie selbstverständlich, was doch so schwer zu machen ist. Es gab wundervolle Momente und spannungsreiche Episoden, und um das gesamte Konzert, bei dem sich stets alles im Fluss befand, spannte sie einen großen musikalischen Bogen voller gebändigter Energie, bei dem die Spannung nicht abriss.
Das Orchester begleitete bzw. gestaltete zunächst mit seinem speziellen Klang, einfühlsamen Streichern, guten Bläsern und gut integrierter Pauke mit, bis Sokhiev, dem derzeitigen Trend folgend, lautstark und kraftvoll manche Passage hervorhob und damit so manch schöne, auch solistische Passage im Orchester zudeckte, mitunter aber auch dem Orchester eine freie Gestaltung überließ. Julia Fischers feiner und trotzdem tragender Ton setzte sich immer durch, gleichsam aus dem Orchesterklang herauswachsend. Sie gab den guten Ton an und prägte den Gesamteindruck des Violinkonzertes.
Für den enthusiastischen Applaus (auch ohne die jetzt leider oft in so manchem Konzert notorisch und lautstark Begeisterung bekundende Truppe) bedankte sie sich mit der in idealer Weise, äußerst virtuos und doch wunderbar melodiös und ausdrucksstark gespielten „13. Caprice“ von Niccolò Paganini.
Julia Fischer wird auch in ihrem Capell-Rezital (9.2.2023), im Sonderkonzert der Staatskapelle (25.4.) und im 9. Kammerabend der Staatskapelle (27.4.) zu erleben sein.
Besonders wuchtig, mit permanent harten Paukenschlägen, gestaltete Sokhiev danach den Beginn der 1. Symphonie von Brahms mit der chromatischen Gegenbewegung zwischen Bläsern und Streichern im dramatischen Forte des gesamten Orchesters. Im weiteren Verlauf kamen dann jedoch die feinen harmonischen Verquickungen, wie die vom Pianissimo zum Fortissimo gegeneinander geführten Stimmen, die feinsinnigen Passagen von Horn, Klarinette, Oboe, Flöte, Fagott und erst recht vom Cello in der allgemeinen Vehemenz, nur wenig zur Geltung. Hierin folgte er dem allgemeiner Trend, alles, insbesondere die Sinfonien mit gewaltiger Lautstärke und extremen Kontrasten ausdrucksstark zu gestalten. Hier wäre aber weniger mehr. In den berühmten Werken der Komponisten aus Klassik und Romantik ist so viel Brisanz enthalten, die es lohnt, deutlicher herauszuarbeiten.
Das Dresdner Publikum hat sich dank so mancher anderer, gerade diese Feinheiten auslotenden Interpretationen den Sinn für die leisen, feinen, auch melodischen Passagen, bei denen die besondere Klangfähigkeit der Kapelle deutlich wird, bewahrt. Sokhiev ließ sie zuweilen auch zu und gestaltete sie mit, bevorzugte aber allgemein eine kraftvolle, gewaltige und lautstark überhöhte Wiedergabe, die jedoch zu Kontrasten aus ungleichen Teilen, den feinsinnigen, der mit Brahms’ Kompositionsstil und Klangwirkung vertrauten Musiker und der interpretatorischen Absichten des Dirigenten, denen er mit sparsamen Gesten Ausdruck verlieh, tendierte. Die besonderen Strukturen dieser Symphonie wurden damit eher verschleiert als klar herausgearbeitet. Einzig das Horn-Solo am Ende des dritten Satzes setzte sich in voller Schönheit durch.
Die beiden anderen Konzerte (14. und 15.11), die ganz Mendelssohn gewidmet waren, leitete David Afkham. Er begann die Konzertouvertüre „Die Hebriden“ (op. 26) klangvoll, ging jedoch bald zu stärkeren Kontrasten zwischen vehement, energiegeladen und lyrischen Passagen über, weniger auf Feinheiten achtend. Gelegentlich kamen auch hier die Klangqualitäten der Staatskapelle zum Tragen. Allgemein ist vor allem bei jüngeren Dirigenten dieser Trend eines gewissen Interpretationsstiles zu beobachten, äußerlich beeindruckend, aber die Besonderheiten einer Komposition und ihres Verfassers wenig beachtend. Hier wurde weniger auf den Eindruck der schottischen Landschaft und Naturstimmung und den Reiz des Fremden, Ungewöhnlichen orientiert, als vielmehr auf die Wirkung im Konzertsaal.
Julia Fischer gab mit dem, auch ursprünglich vorgesehenen, wegen seiner technischen Schwierigkeiten als Prüfstein geltenden, „Konzert für Violine und Orchester e‑Moll (op. 64) von Mendelssohn, das schon oft, auch an dieser Stelle, von berühmten Geigern mit ihrem persönlichen Stilempfinden aufgeführt wurde, mit ihrem musikalischen Gespür und sehr feiner, geschmeidiger Tongebung eine besondere, individuelle Nuance. Urmusikalisch und feinfühlig vertiefte sie sich ganz in Mendelssohns geniales Werk. Bei ihr ist nichts gekünstelt, nichts aufgesetzt. Sie lebt in dem, was sie gerade spielt.
Als Zugabe entschied sie sich hier für eine „Sarabande“ von Johann Sebastian Bach, die sie souverän meisterte. Ungeachtet der technischen Schwierigkeiten konnte sie sich ganz der melodiösen Gestaltung widmen, was angesichts der virtuosen Anforderungen des Stückes den meistern Geigern nur sehr selten gelingt. Bei ihr wirkte es sehr natürlich und wie selbstverständlich, klangschön und ausgeglichen.
Bei der „Symphonie Nr. 3 a‑Moll“ (op. 56), der „Schottischen“, kam die Faszination ihres düster-geheimnisvollen Charakters unter Afkhams Leitung nur unterschwellig zur Geltung. Er orientierte auf exaktes Musizieren mit den üblichen Kontrasten, aber in sinnvollen Grenzen und nicht überlaut. Die Kapelle steuerte ihre Erfahrungen und Fähigkeiten bei, so dass im Einvernehmen zwischen Dirigent und Orchestermitgliedern eine solide, ansprechende Wiedergabe entstand, bei der auch die romantische, melodiöse Seite, Klangschönheit und Genialität der Komposition zur Geltung kamen.
Man sollte bei diesen Konzerten nicht vergessen, dass bei dem hier erforderlichen kurzfristigen Einspringen eine gute Vorbereitung kaum möglich war und unter diesen Gegebenheiten eine passable Lösung gefunden wurde.
Ingrid Gerk