Dresden / Semperoper: 4. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN – 21.12.2021
Während in Wien, Berlin, München u. a. die Opernhäuser in voller Besetzung spielen, sind in Dresden seit November Opernhäuser, Theater und Konzertsäle geschlossen. Semperoper und Schauspielhaus stellten in eigener Regie sogar schon einige Tage vor der staatlich verordneten Schließung ihren Spielbetrieb ein. So war nun auch das 4. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden ausschließlich im Radio (MDR Kultur und MDR Klassik am 21.12.) zu erleben, vier Tage zuvor (17.12.) in Kooperation mit dem Deutschlandfunk in der Semperoper ohne Publikum aufgenommen. (Deutschlandfunk Kultur überträgt das Konzert am 12.1.2022). Erfahrungsgemäß ist der Eindruck über die Medien ein anderer als beim Live-Erlebnis, aber immerhin konnte man über den Äther „dabei sein“. Man ist doch schon nicht mehr verwöhnt …
Das Konzert sollte schon im Juni, am Vorabend der Schostakowitsch-Tage Gohrisch stattfinden, musste aber abgesagt werden. Jetzt fand es als 4. Symphoniekonzerte statt. Der russische, aus Nordossetien stammende Dirigent Tugan Sokhiev, einer der letzten Schüler von Ilja Mussin am St. Petersburger Konservatorium, seit 2014 Musikdirektor und Chefdirigent am Moskauer Bolschoi-Theater, seit 2008 Leiter des Orchestre National du Capitole de Toulouse, 2012 – 2016 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin und Gast am Pult des Royal Concertgebouw Orchestra, der Wiener und Berliner Philharmoniker u. a., gab damit sein Debüt am Pult der Sächsischen Staatskapelle mit geändertem Programm. Anstelle der ursprünglich geplanten „Leningrader Sinfonie“ von Dmitri Schostakowitsch kam die Ouvertüre zur Oper „Fürst Igor“ von Alexander Borodin und Pjotr Tschaikowskys „Fünfte Symphonie“ zur Aufführung. Sokhiev betonte bei beiden Werken weniger das russische Temperament als vielmehr die empfindsame Seite beider Werke, wobei so manches, sonst weniger beachtete Detail in den Vorderrund rückte. Es war keine sensationelle Wiedergabe, aber eine durchaus auch interessante und inspirierende für beide Seiten.
Die Ouvertüre zur Oper „Fürst Igor“ wurde sehr transparent musiziert. Borodin gehörte zur Künstlergruppe des „Mächtigen Häuflein“, das sich die Aufgabe gestellt hatte, eingängige russische Nationalmusik zu schaffen, was bei dieser Wiedergabe sehr gut zur Geltung kam. Die Staatskapellen-Musiker spielten sehr engagiert, den Vorstellungen des Dirigenten folgend. Zu Beginn in langsamem Tempo, fast „zelebrierend“, führte die Musik in die Handlung der Oper ein, so plastisch, dass man sich die Vorgänge vorstellen konnte. Die russische Mentalität und das kraftvolle Temperament, die bei der Interpretation anderer Dirigenten oft im Vordergrund stehen, hielten sich hier in Grenzen, mehr angedeutet als ausgelebt, aber dennoch spannungsvoll. Es war eine sehr „schlanke“, sachliche Wiedergabe, die auch die innere Struktur dieser Ouvertüre gut erkennen ließ.
Ähnlich verhielt es sich bei der dunkel timbrierten „Symphonie Nr. 5 e-Moll“, die Tschaikowsky aus einer existentiellen Krise heraus schuf. „Dieses von gesellschaftlichen Verpflichtungen getragene Leben ist ermüdend. Ich bin zu Tode erschöpft“, konstatierte er und äußerte zehn Jahre nach seiner „Vierten“ gegenüber seiner Brieffreundin Nadeshda von Meck, dass er sich „ausgeschrieben“ habe. Dennoch komponierte er in wenigen Wochen seine „Fünfte“, die er allerdings als „misslungen“ betrachtete und wahrscheinlich vernichtet hätte, wenn sie nicht durch Arthur Nikischs Dirigat in Sankt Petersburg gerettet worden wäre.
In angemessenem Tempo, auch hier weniger sensationell, als sich vielmehr auf die gefühlsmäßige Seite konzentrierend, transparent, klar, schlank, ohne Effekt heischende Übertreibungen und Betonungen brachte Sokhiev Tschaikowskys „Schicksals-Symphonie“ in seiner individuellen Deutung zu Gehör. Die Kapelle folgte ihm, und auch als Zuhörer konnte man seiner Lesart folgen. Weniger leidenschaftlich, ohne effektvolle Extreme, eher vorsichtig, mitunter fast „zart“, von einer etwas anderen, ungewohnten, Seite betrachtend, mehr verinnerlicht, und mit schöner Klarheit brachte er Tschaikowskys Symphonie, deren Sätze von einem gemeinsamen Leitthema, dem „Schicksalsmotiv“ durchzogen sind, und den schicksalhaften, zerrissenen und verzweifelten Seelenzustand Tschaikowskys, seine völlige Ergebung in das Schicksal, zweifelnd und klagend in seiner Sensibilität zum Ausdruck.
Ingrid Gerk