Dresden/Semperoper: „4. AUFFÜHRUNGSABEND“ UND „8. KAMMERMATINEE“ DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN – 20./23.6.2024
Kammerabende, Kammermatineen und Aufführungsabende der Sächsischen Staatskapelle Dresden finden auf freiwilliger Basis der Kapellmitglieder im Rahmen der orchestereigenen Kammermusik in Selbstorganisation (ohne Honorar) statt, was einmalig in der Welt sein dürfte. Diese nunmehr 170jährige Tradition, die die Identität der Staatskapelle entscheidend mitprägt, geht auf den 1854 von etablierten Kapellmitgliedern, die nach neuen Herausforderungen suchten, gegründeten Tonkünstler-Verein zurück. Jetzt wird auch jüngeren Kapellmitgliedern die Möglichkeit geboten, kammermusikalisch mitzuwirken. Während bei den Kammerabenden in kleiner, das heißt Kammermusikbesetzung musiziert wird, treten die Musiker bei den Aufführungsabenden in kleinerer bis mittlerer Orchesterbesetzung auf.
Im 4. Aufführungsabend“ (20.6.) wurde in besonderer Weise Kammermusik mit Orchesterbesetzung verbunden, letzteres in ungewohnter Aufstellung, die Harfe links, Pauken und Schlagzeug rechts.
Neben zwei Originalkompositionen erklangen vor allem bekannte Kammermusikwerke berühmter Komponisten mit tänzerischem Charakter in Bearbeitungen für Orchester von berühmten Komponisten, beginnend mit „Nocturne As‑Dur (op. 32) Nr. 2 und „Grande valse brillante“ (op. 18) von Frédéric Chopin, bearbeitet für Orchester von Igor Strawinsky, die beim Paris-Gastspiel der Ballet Russes am Beginn und Ende des Ballettes „Chopiniana“ aus, von dem damals noch unbekannten Schüler Strawinskys, Rimski-Korsakow, orchestrierten Klavierstücken Chopins erklangen.
Während die Musiker mit der jungen, in Hong Kong geborenen Elim Chan am Dirigentenpult das „Nocturne“, dem empfindsamen Wesen Chopins entsprechend, mit sehr romantischen Klängen und angemessenem Tempo plastisch erstehen ließen, begann der „Grande valse“ ziemlich heftig, lautstark und temperamentvoll wie ein slawischer Tanz, mehr die volkstümliche, polnische Seite in rhythmischer Ausgelassenheit betonend mit Pauke und Tuba und einem schönen Violinsolo sowie einer Generalpause als überraschendem Moment.
Zu einer spezifischen Besonderheit dieser Konzerte gehört auch, dass ein Kapellmitglied Gelegenheit erhält, bei einem solistischen Auftritt sein künstlerisches Potential zu präsentieren. Friedrich Thiele, Konzertmeister Violoncello und ARD-Musikpreisträger, widmete sich den „Variationen über ein Rokoko-Thema A‑Dur“ (op. 33) für Violoncello und Orchester von Pjotr I. Tschaikowsky mit schlankem, singendem Ton, schöner Farbigkeit, Detailtreue und musikalischem Gefühl für jede einzelne Variation und ihren Charakter, mitunter mit passendem Vibrato oder Glissando, leicht und beschwingt und mit einer ausgiebigen Kadenz, „organisch“ mit dem Orchester verbunden, aus dessen Reihen unter anderem ein schönes Hornsolo kam.
Dafür wurde Thiele vom Publikum und seinen Orchesterkollegen gefeiert. Er bedankte sich mit einer kleinen, heiter-fröhlichen Zugabe mit dem Titel „Sanguinisch“ von Rainer Lischka, einem Dresdner Komponisten und Hochschullehrer, der mit Sinn für Humor stark rhythmisch betont und genreübergreifend „Unterhaltsamkeit und Leichtigkeit“ in die „ernste Musik“ bringen möchte.
Bei Claude Debussys „Sarabande“ und „Tanz“, bearbeitet für Orchester von Maurice Ravel, war eine Seelenverwandtschaft der beiden Komponisten nicht zu überhören. Ravel verstärkte durch seine Bearbeitung die Substanz der beiden Stücke, hob sie plastisch hervor und überhöhte sie, was durch die sehr gute Interpretation mit sehr schönen Soli einzelner Instrumente noch verstärkt und mit einem wuchtigen Schluss und Paukenschlag betont wurde.
Noch einmal kam Igor Strawinsky „zu Wort“, jetzt aber mit der Bearbeitung eines eigenen Werkes, der 1922 mit dem Boston Symphony Orchestra uraufgeführten „Pulcinella“. Suite für Orchester nach seinem, 1920 an der Pariser Oper uraufgeführten neoklassizistischen Ballett mit vier Gesangssolisten und Orchester, das er im Auftrag von Dagilew für die Ballet Russes geschrieben hatte und dessen Handlung auf den „Quatre Polichinelles semblables“ („Vier identische Pulcinellen“) der süditalienischen Commedia dell´arte (1700) basiert. Die aus dem Ballett abgeleitete achtsätzige „Pulcinella Suite“ hat keine Gesangsteile. Mit einem Reigen schöner Soli von Violine, Flöte, Oboe, Horn, Posaune, Fagott usw. wurde sie launig und spritzig und mit Akkuratesse bis zum heiteren Schluss ausgeführt – 35 Minuten sehr niveauvoller Kurzweil und anspruchsvoller Unterhaltung.
Die Dirigentin, der ein euphorischer Ruf vorauseilt und die auch schon einmal am Pult der Dresdner Philharmonie stand, hielt sich dezent zurück, so dass vor allem auch die Instrumentalsoli zur Wirkung kamen und viele Stücke leicht und locker erklangen und ihren überwiegend kammermusikalischen Charakter in der Überhöhung durch die Orchestrierung bewahren konnten.
Kammermusik in Originalbesetzung aus drei verschiedenen Epochen gab es in der „8. Kammermusikmatinee“ (23.6.).
Von Johann Georg Pisendel, dem bedeutendsten deutschen Violinvirtuosen des Spätbarock, 43 Jahre Mitglied der Dresdner Hofkapelle, zunächst als 1. Violinist, dann als Konzertmeister unter J. A, Hasse, befreundet mit Telemann und Vivaldi, dessen Kompositionsstil und Werke er nach seinem Studium bei ihm nach Dresden brachte und die Vivaldi-Pflege begründete, der unter anderem 12 Violinkonzerte, Concerti grossi, Triosonaten, Sonaten usw. schrieb und einer der möglichen Interpreten der „Sonaten und Partiten für Violine solo“ von J. S. Bach gewesen sein könnte, erklang das dreisätzige „Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo“.
Eine auf diesem Gebiet versierte Kammerformation der Dresdner Kapellsolisten, vier Musiker und eine Musikerin, musizierten mit Frische, Stilgefühl, betörendem Klang, Einfühlungsvermögen und Können. Den Solopart spielte Susanne Branny stilgerecht als Prima inter pares (Erste unter Gleichen) und Jobst Schneiderat sorgte am Cembalo für das musikalische und klangliche „Fundament“.
Anders, vor allem als unkonventionelle Unterhaltung und Gegenpol zur „spätromantischen Bedeutungsschwere“ sah Paul Hindemith die Barockmusik und orientierte sich auch bei seiner eigenwilligen fünfsätzigen „Kleinen Kammermusik für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott“ (op. 26 Nr. 2) daran, mit der er die Grenzen zwischen Kunstanspruch und Unterhaltung überschritt. Im Gegensatz zur robusten Art Hindemiths spielten fünf exzellente Bläser der Kapelle leicht und geschmeidig mit edler Tongebung und in vollkommener Harmonie und veredelten das Stück mit ihrem Klang.
Zurück zur Romantik mit besonderer „Bedeutungsschwere“ führte das „Klavierquintett Es‑Dur (op. 44) von Robert Schumann mit seiner dramatischen Konzeption, das in Länge und Klangfülle zuweilen an sinfonische Dimensionen führt. Dafür hatten sich vier Musiker der Staatskapelle einen jungen, begabten Pianisten, Julius Asal, eingeladen, der mit fein differenzierendem Anschlag und Werkverständnis kongenial als Quintettpartner mitwirkte. Alle fünf Musiker bildeten eine sehr harmonische Einheit im Dienste der Musik Schumanns, die sie klangvoll und mit musikalischem Einfühlungsvermögen dem Publikum erschlossen.
Ingrid Gerk