Dresden / Semperoper: 12. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT DANIELE GATTI – 12.7.2022
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Beim 12. und letzten Symphoniekonzert der Saison der Sächsischen Staatskapelle wurde Daniele Gatti, der designierte Chef-Dirigenten und Wunschkandidat der Orchestermitglieder wie des Publikums, mit herzlichem Applaus empfangen. Er erwies sich einmal mehr als idealer Dirigent für dieses Orchester.
Das Konzert war sehr gut besucht, obwohl als alleiniges Werk die etwa 80minütige Symphonie Nr. 9 D‑Dur von Gustav Mahler auf dem Programm stand, seine letzte vollendete, Symphonie, deren Uraufführung er 1912 in Wien nicht mehr erleben konnte. Sie ist kein leichtes Werk, und es wäre nicht sinnvoll gewesen, ihr noch etwas anderes an die Seite zu stellen, denn sie erfordert als hochwertigstes Werk Mahlers und konsequente Vollendung seines kompositorischen Weges sehr viel Aufmerksamkeit und Konzentration.
Mahler wendet sich darin von den, bis dahin geltenden, Kompositionstechniken, wie Sonatenhauptsatzform und Themendualismus, ab und reizt den tonalen Raum bis an die Grenzen aus. Zugunsten neuer harmonischer Strukturen verzichtet er weitgehend auf das Melodische, weshalb Mahlers „Neunte“ als „erstes Werk der neuen Musik“ (Theodor W. Adorno) gilt.
Gattis Wirken in Oper und Konzert ist vielseitig. Mit Berlioz, Wagner, Verdi, Debussy, Strawinsky, Respighi, Weinberg usw., feierte er große Erfolge, aber Mahler scheint ihm besonders am Herzen zu liegen. Symphonien von ihm hat er schon öfters auch mit der Sächsischen Staatskapelle aufgeführt, jedes Mal mit besonderer Intensität und mitreißender Ausstrahlung. Selbst bei einem Konzert mit dem Gustav Mahler Jugendorchester in der Semperoper verstand er es, die jungen Musiker zu einer Intensität zu inspirieren, die man von so jungen Leuten eigentlich noch nicht erwartet.
Mit unglaublicher Transparenz, emotionalem musikalischem Verständnis und Gespür für Mahlers zwiespältige, sehr individuelle Empfindungs- und Gedankenwelt, seine sehr persönliche (fatalistische) Philosophie um das Werden und Vergehen allen Lebens, seine innere Abkehr von der Welt, der Natur und den Menschen, brachte Gatti diesen, aus gravierenden persönlichen Ereignissen und Erlebnissen resultierenden, grandiosen Abgesang vom Leben zum Klingen.
Gatti beherrscht die Partitur auswendig und konzentrierte sich mit wenigen erforderlichen Gesten auf die eindrucksvolle, sehr intensive Wiedergabe dieses grandiosen Werkes. Er spannte einen mächtigen Bogen um die vier Sätze, wobei auch eine Pause als Zäsur nach dem 3. Satz („Rondo – Burleske“), bevor der groteske 4. Satz langsam und zurückhaltend mit den leisesten Streichern begann, gehörte, und nach den vorangegangenen drei Abschiedssätzen von sehr starker Wirkung war.
Er arbeitete mit einer großen Ausdruckspalette vom feinsten, leisesten, gerade noch wahrnehmbaren Pianissimo bis zum gewaltigen Tosen und Toben im Fortissimo der alles überwältigenden Klangmassen und schenkte auch den lyrisch-melodischen Passagen, die bis ins feinste Detail ausgefeilt wurden, gebührende Aufmerksamkeit. Er hielt bis zum leise verklingenden, verhauchenden Schluss die Spannung und Anspannung.
Er und die Kapelle befanden sich in freundschaftlicher Verbundenheit „auf gleicher Wellenlänge“ und ließen das Werk gemeinsam in einer sehr seltenen Auseinandersetzung bis in den letzten Takt plastisch erstehen. Gatti verstand es auch, die „Spezialität“ der Kapelle, die „himmlisch schönen“ lyrischen Passagen und die ausgelassen musizierten volkstümlichen, tänzerischen Elemente, die „wie Ruinen“ von Walzer, Ländler und steirischem Ländler in Mahlers Empfindung vom Leben übrigblieben, wie ein Atemholen, ein schwacher, und doch wieder verworfener Hoffnungsschimmer in der Übermacht der mit harten Klängen hereinstürzenden Schicksalsschläge von den Musikern gestalten zu lassen.
Trotz sich überstürzender Klangmassen ließ er nichts ins klangliche „Chaos“ abgleiten, sondern formte alles zu einem inhaltlich wie gestalterisch nachvollziehbaren Ganzen. Sehr schöne Bläser (Horn, Flöte, Fagott, Posaunen, Trompeten usw.), ein wunderbares Flötensolo und Hornsolo, leise zelebrierende Instrumente, gerade noch hörbar wie ein Lufthauch, einzelne leiseste solistische Streicher, „ersterbend“ und sich wieder „erholend“, setzten wohltuende „lichte Momente“. Da hätte man die berühmte Stecknadel zur Erde fallen hören können.
Die Musiker folgten Gattis sehr anspruchsvoller, umsichtiger Leitung in jeder Phase mit großer Aufmerksamkeit und Leistungsbereitschaft. Ihm war es zu danken, dass kein klangliches Chaos entstand (wie nicht selten bei anderen Dirigenten, die dann alles in Klangmassen „versinken“ lassen).
Das monumentale Werk, bei dem Gattis Interpretation die Musik nicht nur zu hören und zu erleben, sondern auch mitzufühlen war, verklang leise, sehr leise, ersterbend wie in transzendenten Sphärenklängen bis sie ganz verstummte. Das Publikum hielt den Atem an, bis der Beifall losbrach und Gatti und die Staatskapelle mit standing ovations gefeiert wurden.
Ingrid Gerk