Dresden/Semperoper: „10. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT LANG LANG, ABER LEIDER OHNE CHRISTIAN THIELEMANN – 21.5.2024
Man hatte sich sehr auf eines der letzten Konzerte Christian Thielemanns in Dresden gefreut, aber leider musste er krankheitsbedingt das 10. Symphoniekonzert und auch die anschließende Europatournee absagen.
Für ihn übernahmen zwei Dirigentinnen die Leitung, die schon einmal mit der Sächsischen Staatskapelle aufgetreten waren, die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, 2016-2021 Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra und seitdem dort erste Gastdirigentin, die ihr Debüt bei der Sächsischen Staatskapelle beim 3. Symphoniekonzert der aktuellen Saison gab, dieses Symphoniekonzert leitete und die Konzerte in Wien (29.5.) und Hamburg (1.6.) übernehmen wird, sowie die Französin Marie Jacquot, Erste Kapellmeisterin an der Deutschen Oper am Rhein, ab Sommer 2024 Leiterin des Königlich Dänischen Theaters in Kopenhagen und seit 2023/24 erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker, die 2022 das vom Fernsehen aus der Frauenkirche übertragene Adventskonzert der Sächsischen Staatskapelle leitete und die Konzerte in Paris (24.5. Essen (26.5.), Köln (27.5. ) und Wien (29.5.) übernehmen wird – zum Teil mit geändertem Programm.
Das Programmes des 10. Symphoniekonzertes blieb den französischen Impressionisten gewidmet, wenn auch mit einigen Änderungen. Die französische Musik gehört zur langen Tradition der Sächsischen Staatskapelle. Bereits drei Jahre nach der Uraufführung erklang 1914 in Dresden unter Ernst von Schuch Maurice Ravels „Ma mère l’Oye“, eine liebevolle Komposition für Kinder, mit der auch dieses Konzert eingeleitet wurde, und auch Claude Debussy fand hier noch zu Lebzeiten Anklang. Statt „Iberia“ aus „Images pour orchestre“ von Debussy“ wurde dessen Zyklus La mer“ gespielt, und „anstelle von „La Valse. Poème chorégraphique pour orchestre“ von Ravel „Daphnis und Cloe“, die beide zum Repertoire des Orchesters gehören.
Mit leisen, sehr feinen Tönen, zart und schwebend begannen die Musiker der Staatskapelle das Konzert mit Ravels poesievoller Märchenerzählung „Ma mère l’Oye“ („Meine Mutter, die Gans“), in der verschiedene Märchen vom Däumling, der Kaiserin der Pagoden, die über ein Volk kleiner Porzellanfiguren gebietet, der Schönen und dem Biest bis zum Pagodengarten in die Träume einer schönen schlafenden Prinzessin (Dornröschen) eingeflochten sind. Ravel, der ein ausgeprägtes Gespür für den Umgang mit Kindern hatte, wollte damit die Poesie der Kindheit wachrufen. So entstand aus einer „Fantasie“ für Klavier für die beiden Kinder eines befreundeten Ehepaares und vier weiteren hinzu komponierten Stücken zunächst ein fünfteiliges Klavierduett, das dann als Ballettmusik und fast zeitgleich als eine, in vereinfachtem, verschlanktem Stil brillant instrumentierte, schillernde „Suite für Orchester“ umgesetzt wurde, die die Staatskapelle äußerst feinsinnig, klangschön und mit höchster Transparenz und Exaktheit dem besonderen, impressionisten Klangbild entsprechend, plastisch zu Gehör brachte.
Da war jede Vogelstimme, jede Nuance im filigranen Klanggebilde zu hören und die Schönheit dieser Musik voll zu genießen. Mit „seidigen“ Flöten und Klarinetten, die den Übergang in eine verhangene Traumwelt und glückliches Selbstvergessen skizzieren, zarter Spieldosen artiger Musik bei der Kaiserin der Pagoden, klangschöner Soloklarinette für die Schöne und brillant gespieltem Kontrafagott für das Biest, das mit weich gleitenden Glissandi der Harfen und ebenso klangschönen gedämpften ersten Violinen in einen schönen Prinzen verwandelt wird, sowie einer hauchzarten, gravitätischen Pavane und glitzerndem Feengarten entstand eine fantasievolle, lauschige Traumwelt, wie man sie so zart und fein nur sehr selten hören kann.
Lang Lang war – wie angekündigt – gekommen und spielte das, wie mit einem „Peitschenknall“, hier eher einem „Schuss“ eröffnete, „Klavierkonzert G‑Dur“ von Maurice Ravel. Mancher Konzertbesucher mag sich da an Daniil Trifonow erinnert haben, der vor einigen Jahren das gleiche Konzert am gleichen Ort spielte. Beide Starpianisten interpretierten es sehr unterschiedlich und individuell, jeder auf seine überzeugende Art. Lang Lang spielte es weniger auffällig oder sensationell, aber souverän, mit weichem differenzierendem Anschlag, perfekten Läufen und „verrückten“ Glissandi, rhythmisch pulsierend, mit Bravour und Leichtigkeit, Vehemenz und Temperament, aber auch sehr feinfühlig und sensibel (2. Satz). Nach einem heftigen (Pauken-)Schlag (wie Schostakowitschs Holzhammer“) setzte Lang Lang mit seinem Solo sehr fein, sensibel, verhalten, versonnen und träumerisch, aber ausdrucksvoll fort. Das Orchester schwieg andächtig dazu, bis es wieder, unter anderem mit sehr schönem Flötensolo, Klarinette und allgemein feinen Bläsern und tiefen Streichern einsetzte.
Lang Lang vertiefte sich ganz in das Werk. Wenn er am Klavier sitzt, ist sein ganzer Körper von Musik durchpulst. Da „spielen“ auch die Füße gedankenverloren mit. Sein Augenmerk galt auch der Dirigentin, die das Klavierkonzert vehement mit lautem „Wirbel“ beenden ließ, in verantwortungsvollem Blickkontakt und den Instrumentalsolisten, um sich exakt in das Klanggefüge einzubinden. Insbesondere mit Englischhorn und Flöte (Adagio) korrespondierte er in innigem Dialog und überzeugte vor allem durch Werktreue. Das begeisterte Publikum entließ ihn erst nach einer zu dem vehementen Schluss kontrastierenden, sanften Zugabe.
Gražinytė-Tyla gilt als Kennerin der französischen Musik. Sie wählte ihren Künstlernamen „Tyla“, der so viel wie „Ruhe“ bedeutet, doch Ravels „drei symphonische Skizzen für Orchester“ „La mer“ (L. 109, CD. 111) strahlten nicht nur Ruhe aus. Da wurden auch kontrastierende Akzente in Farben und Formen gesetzt. Relativ ruhig bewegten sich zunächst die beiden ersten Teile „I. De l’aube à midi sur la mer – très lent (Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer), wie mit sanftem Glockengeläut in der Ferne beginnend, und „II. Jeux de vagues (Spiel der Wellen ), mit schönen, solistisch hervorgehobenen Instrumenten, wie Tuba, Flöte, Harfen, Oboe, Celli und Bläsern, bis sich in „III. Dialogue du vent et de la mer – animé et tumultueux (Dialog zwischen Wind und Meer) die Wogen auch lautstark immer höher und höher türmten und man unwillkürlich an das, von Debussy selbst gewählte Titelbild der ersten Ausgabe nach einem Ausschnitt des Holzschnittes „Die große Welle vor Kanagawa“ des asiatischen Künstlers Hokusai erinnert wurde.
Mit riesigem Orchester, einschließlich Pauke und neun Schlagwerken erstand Ravels Ballettmusik „Daphnis et Chloé“. Suite Nr. 2“, mit fast einer Stunde Dauer Ravels längstes Werk und auch sein leidenschaftlichstes. Im Auftrag von Sergej Diaghilew für die Ballets Russes geschaffen, wurde bereits die Uraufführung 1912 in Paris ein Riesenerfolg.
In der Art der Interpretation ähnelten sich hier beide Werke etwas. Bei letzterem schlugen die Wellenberge aus Klang hoch, allgemein aber blieben die gewohnte Transparenz und Detailtreue der Staatskapelle erhalten und ließen die aus einem Hirtenroman des griechischen Schriftstellers Longusa adaptierte Handlung um die Liebe zwischen dem Ziegenhirten Daphnis und der Hirtin Chloé bis zum glücklichen Ende gedanklich nachvollziehen.
Ingrid Gerk