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DRESDEN/ Semperoper: 1. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE ZUR ERÖFFNUNG DER JUBILÄUMSSAISON MIT CHRISTIAN THIELEMANN UND ANTOINE TAMESTIT

08.09.2023 | Konzert/Liederabende

 Dresden/Semperoper:  1. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE ZUR ERÖFFNUNG DER JUBILÄUMSSAISON MIT CHRISTIAN THIELEMANN UND ANTOINE TAMESTIT – 5.9.2023

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Christian Thielemann. Foto: Matthias Creutziger
 
Die Sächsische Staatskapelle Dresden blickt in diesem Jahr auf 475 Jahre ihres kontinuierlichen Bestehens voller Glanz und Klang zurück. Am 22. September 1548 als Dresdner Hofkapelle gegründet, prägten kontinuierlich herausragende Kapellmeister und international geschätzte Instrumentalisten das Orchester.
 
Für Christian Thielemann, der seit 2012 das Orchester mit der Qualität der von ihm geleiteten Sinfoniekonzerte und Opernaufführungen zu einem künstlerischen Höhenflug führte, der seinesgleichen sucht, und damit den internationalen Ruf des Orchesters geprägt hat, dessen Nichtverlängerung seines Vertrages aber noch immer auf Unverständnis stößt, begann mit diesem 1. Symphoniekonzert der Saison 2023/24 leider schon seine letzte Saison mit der Kapelle in Dresden, wovon er sich aber nichts anmerken ließ. Traurig war vor allem das Publikum, weil eine so glückliche, Erfolg bekrönte Konstellation ohne nachvollziehbare Gründe jäh unterbrochen wurde.
 
Im Mittelpunkt der neuen Konzertsaison stehen vor allem Werke, die Höhepunkte der Kapell-Geschichte darstellen, aber auch solche, die nur selten oder lange nicht mehr gespielt wurden. In diesem Sinne standen im 1. Symphoniekonzert zwei sehr gegensätzliche Werke auf dem Programm, „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss, die zweifellos zu den Höhepunkten zählt, und das Bratschenkonzert „Der Schwanendreher“ von Paul Hindemith, das zu den eher selten gespielten Werken gehört. Beide Komponisten waren der Kapelle eng verbunden.
 Seit Hindemiths Oper „Cardillac“ 1926 in Dresden unter Fritz Busch uraufgeführt wurde, bestand zwischen Komponist und Kapelle eine besondere Beziehung. Bis zum NS-Aufführungsverbot stand Hindemiths Musik häufig auf den Programmen des Orchesters, und auch nach 1945 wurden in Dresden seine Werke unter Joseph Keilberth wieder aufgeführt.

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Antoine Tamestit. Foto: Julien Mignot

Bei Hindemiths, 1935 von ihm selbst als Solist in Amsterdam uraufgeführten, „Konzert nach alten Volksliedern für Bratsche und kleines Orchester“, „Der Schwanendreher“, mit dem er die bedrängte Lage bedrohter Musiker in Deutschland reflektiert und das einen festen Platz im Bratschenkonzert-Repertoire einnimmt, hatte der international sehr geschätzte französische Bratschist Antoine Tamestit, der in der Saison 2021/22 als Capell-Virtuos stürmisch gefeiert wurde, Gelegenheit, sein großartiges technisches Können, seinen sanften, geschmeidigen Ton und sein Einfühlungsvermögen von der ersten Solo-Passage an, mit der das Konzert ohne Orchester beginnt, wie aus einem Guss, kantabel und zugleich präzise bis in die letzte Nuance auszuleben – völlig unspektakulär und ganz dem Werk verpflichtet, gelegentlich kongenial unterstützt von der Harfe.

Bei der ungewöhnlichen Instrumentierung mit Flöte, Piccoloflöte, Oboe, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 3 Hörner, Trompete, Posaune, Pauken, Harfe, 4 Celli und 3 Kontrabässen, bei der Hindemith ganz auf Violinen und Bratschen verzichtet, ist der Solopart uneingeschränkt hörbar und kann nicht von anderen hohen Streichern „überlagert“ werden, so dass alle virtuosen Kunstgriffe und Feinheiten voll zur Geltung kommen konnten. Tamestit erwies sich einmal mehr als grandioser Solist, der die tragische Botschaft ironisch versteckt in Volksliedern, wie die (scheinbar) heiteren Melodien, Abschied und Schmerz, Resignation und Standhaftigkeit, Stolz und Kühnheit bis zu beklemmender Tiefe auslotete.

Der Zugriff auf mittelalterliche deutsche Volkslieder ist hier offenbar ironisch gemeint, da Hindemith mit seiner freien Tonalität im „Dritten Reich“ von Goebbels als atonaler Geräuschemacher“ verunglimpft wurde. Jeder Satz dieses „Konzertes aus alten Volksliedern“ basiert auf einem eigenen Volkslied. Der Titel leitet sich vom Lied des letzten Satzes „Bist du nicht der Schwanendreher?“ ab, das den „Schwanenwender“, den Kochgehilfen, der den Spieß drehte, an dem Schwäne geröstet wurden, meint. Bei Hindemith wird er jedoch zum wandernden mittelalterlichen Minnesänger, als den er sich selbst sah, der mit der Drehorgel, die meist einen Griff in Form eines Schwanenhalses hatte, heimatlos in Ungewissheit als ein Verfemter durchs Land zieht.

Thielemann und Tamestit spürten gemeinsam allen Nuancen und Feinheiten dieses Konzertes nach, machten Strukturen deutlich und ließen die Melodien, auch beinahe liebliche, heitere, tänzerische, deutlich hervortreten und im vehement, vital, mutig und scheinbar optimistisch gestimmten 3. Satz auch ausdrucksstark leichte Misstöne anklingen und mit fast eulenspiegelhaftem „Nasedrehen“ ausklingen. Im Einklang mit dem besonderen Klang der Staatskapelle entstand eine außergewöhnliche Wiedergabe, nach der das Publikum einen solchen Solisten nicht gleich gehen ließ. Selbst Thielemann setzte sich zum Orchester, um einer mit höchster Virtuosität, allen erdenklichen Raffinessen, Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Bratschenkunst gespickten Zugabe (nach Jimi Hendrix) im ICE-Tempo, bei dem dennoch kein Ton und keine Feinheit verlorengingen, zuzuhören und zu applaudieren.

60 Jahre lang war Richard Strauss der damaligen Dresdner Hofkapelle eng verbunden. Insgesamt neun seiner Opern wurden in Dresden uraufgeführt. Er dirigierte das Orchester oft selbst, auch 1915 bei der Uraufführung seiner, der Kappelle mit den Worten: „Dem Grafen Nicolaus Seebach und der Königlichen Kapelle zu Dresden in Dankbarkeit“ gewidmeten Tondichtung „Eine Alpensinfonie“ (op. 64) in Berlin.
 
Die Dresdner freuen sich über jedes Konzert, das hier (noch) von Christian Thielemann geleitet wird, und konnten auch in diesem Konzert eine überwältigende, akribisch genaue Wiedergabe erleben, die aus seiner intensiven Beschäftigung und Erfassen des Werkes resultiert. Für ihn bedeutet Strauss mehr als nur Traditionspflege und musikalischer Ausdruck einer bestimmten Zeit. Durch seine intensive Wiedergabe wirkt alles – auch ohne bewusste „Modernisierung“ – unmittelbar und sehr gegenwärtig.
 
Es war Strauss’ erklärte Absicht, dem Hörer mit musikalischen Mitteln die Besteigung eines Alpengipfels und die Rückkehr ins Tal während eines Tages als Tongemälde sinnlich unmittelbar erlebbar zu machen, was in beeindruckender Weise vor allem mit der raffinierten Besetzung eines Riesenorchesters gelang, für das neben allen möglichen „normalen“ Instrumenten auch ziemlich ausgefallene, wie Heckelphon, Orgel, 2 Harfen, Windmachine, Donnerblech, Glockenspiel (Kuhglocken) und Celesta sowie empfohlenes Aerophon für insgesamt mindestens 107 Musiker bis zu einer Optimalbesetzung von 129 Musikern oder noch mehr vorgesehen sind. Hinzu kommt eine nuancenreiche Instrumentierung und das reizvolle und spannungsreiche Nebeneinander von sehr subtilen und eher banalen Effekten.

Die Idee dazu geht auf ein Erlebnis zurück, bei dem sich Strauss als 15jähriger im Sommer 1879 in den Alpen verstiegen hatte und in ein Gewitter geriet. Strauss war ein genialer Schilderer von Situationen, der von sich behaupten konnte, dass er ein Glas Bier musikalisch so zu schildern vermochte, dass man erkennt, ob es ein Helles oder ein Pils sei. Dennoch ist seine „Alpensinfonie“ keine reine Naturschilderung. Dass Bergbesteigung und späterer Abstieg in „Nacht“ beginnen bzw. enden, dürfte auch auf die ursprünglich geplante sinfonische Dichtung über das Schicksal eines Porträtmalers und passionierten Bergsteigers, der später, im Todesjahr des Philosophen Friedrich Nietzsche mit dessen Person und Philosophie in einer viersätzigen Sinfonie identifiziert werden sollte, zurückzuführen sein. Die von Strauss beschriebene Wanderweg könnte deshalb gleichsam als sinfonische Darstellung eines menschlichen Lebens mit seinen Höhen und Tiefen betrachtet werden.

Thielemann spürte Strauss’ Intentionen nach und nahm die aufmerksam lauschenden Zuhörer mit hinein in diese Welt der Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle. Die Musiker folgten seinen Intentionen und steuerten ihrerseits vor allem in den feinen, lyrischen Passagen eine besonders liebliche Gestaltung bei. Die feinsinnigen Streicher breiteten den Klangteppich aus, auf dem sich auch die Soli der Bläser entfalten konnten, insbesondere Flöte und Oboe.

Man erlebte mit dem Wanderer die gigantische Welt der Alpen in entsprechenden Schattierungen vom feinsten, zartesten Pianissimo (ppp) in sehr feinen, liebevoll ausmusizierten lyrischen Situationen, wie dem „Sonnenaufgang“, der „Wanderung neben dem Bache“und „Auf blumigen Wiesen“, die bäuerliche Idylle „Auf der Alm“ usw., aber auch brisante, hochdramatische Schilderungen, bei „Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen“, „Gefahrvolle Augenblicke“, bis zu hochdamatischen Ausbrüchen im Fortissimo (fff) mit intensiver Lautstärke bei „Gewitter und Sturm“ und danach die überwältigende Freude und Erleichterung nach dem Gewitter, feine Orgelklänge die in kurzer Passage sehr viel auszusagen vermochten, und einen geläuterten, feierlichen Abgesang.

Welche Erhabenheit bei diesem grandiosen, plastisch erstehenden Alpenpanorama im naturbedingten Auf und Ab von paradiesischen Anblicken und gefahrvollen Situationen! Es war eine musikalische Höhenwanderung der Extraklasse. Nicht nur die Solisten, auch die einzelnen Instrumentengruppen und das gesamte Orchester haben unter Thielemanns Leitung und Inspiration Hervorragendes geleistet, wofür sich das Publikum mit begeistertem Applaus bedankte.

Die beiden Werke aus diesem Programm sind auch Bestandteil des Europatournee-Programms, das Christian Thielemann und die Staatskapelle Dresden vom 7. – 15.9. nach Amsterdam, Luzern, Wien und Frankfurt führt.

Ingrid Gerk

 

 

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