Dresden / Kulturpalast: KONZERT DER DRESDNER PHILHARMONIE AM REFORMATIONSTAG MIT MENDELSSOHNS „REFORMATIONS-SINFONIE“, SCHOECK UND MAHLER – 31.10.2020
In Sachsen, dem Kernland der Reformation, ist der „Reformationstag“ (31.10.) in Erinnerung an Martin Luthers (umstrittenen) Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg noch Feiertag. Die Dresdner Philharmonie lud zu einem festlichen Konzert mit Kompositionen von Othmar Schoeck, Gustav Mahler, und – was könnte besser an diesem Tag passen – mit der „Sinfonie Nr. 5 d‑Moll“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy, der „Reformations-Sinfonie“, ein, die dieser gerade erst 20jährig zur Feier des 300. Jahrestages der „Confessio Augustana“ schrieb.
Ein Jugendwerk ganz anderer Art, die „Serenade für kleines Orchester (op. 1) von Othmar Schoeck, der sie, ebenfalls 20jährig, als Abschlussarbeit seines Studiums am Zürcher Konservatorium schrieb, eröffnete das Konzert, wie er selbst bemerkte, mit „etwas dick“ aufgetragener „kontrapunktischer Kunst“. Im Rahmen seines späteren Meisterstudiums bei Max Reger retuschierte er seine ursprünglich „Spanische Serenade“ und reduzierte das folkloristische Kolorit. Jetzt empfand man dieses kleine tonale, einsätzige Stück, in dem er in einzelnen Abschnitten ein Ständchen schildert, bei dem die Musikanten nach einer kurzen Beschreibung von ihm in geschäftigem Treiben einer etwas starrsinnigen Herzensdame ein feuriges Ständchen bringen, was erst nach sentimentalem Schmachten, einigem Unwillen, bis zur Wut gesteigert, und erneutem eindringlichem Versuch zum Erfolg führt. Die Dame zeigt sich doch noch am Fenster und dankt und die Musiker ziehen müde ab.
Ganz und gar nicht müde musizierten die Musiker der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Vassily Petrenko, (nicht zu verwechseln mit Kirill Petrenko!) der bereits mit zahlreichen renommierten Orchestern, wie den Berliner Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem Orchestra Philharmonique de Radio France, dem NHK Symphony Orchestra Tokyo u. a. zusammenarbeitete, dieses im guten Sinne amüsant unterhaltsame Stück, das man vom Komponisten der „Penthesilea“ nicht erwartet hatte. (Jeder hat mal irgendwie angefangen!). Petrenko folgte mit dem Orchester sinnreich dem kleinen „Programm“ und ließ es mit einem abrupten Schluss enden.
Nun konnte man sich „Des Knaben Wunderhorn“ – „Liedern für eine Singstimme mit Orchesterbegleitung“ von Gustav Mahler widmen, dem bekannten „Rheinlegendchen“, dem mit einfühlsamem Bläserglanz eingeleiteten „Wo die schönen Trompeten blasen“, dem liebevoll und heiter musizierten „Wer hat dies Liedlein erdacht“, dem traurig stimmenden „Das irdische Leben“ und dem neckischen „Lob des hohen Verstandes“, bei dem die Bläser noch einmal sehr wirkungsvoll in Erscheinung traten.
Die einzelnen Lieder wurden stets stilvoll und einfühlsam vom Orchester eingeleitet und in schöner Übereinstimmung mit der Schweizer Mezzosopranistin Anna Lucia Richter musiziert, die sich souverän allen Anforderungen stellte. Mit ihrer, auch im behutsamsten Pianissimo tragenden, Stimme, ihrem mühelos „natürlich fließenden“ Gesang, feinster dynamischer Phrasierung und langem Atem, nicht laut, nicht vordergründig, aber sehr schön und klangvoll, mit eleganten, sachlichen Gesten sehr lebendig unterstreichend, brachte sie sich ein, ohne aufgesetzt oder theatralisch zu wirken. Bei ihr war alles sehr angenehm, ungezwungen und natürlich (obwohl es doch bewusst kalkuliert war). Damit löste sie den Liedgesang aus einer oftmals vorherrschenden Starre. Dennoch blieb trotz großem Orchester der intime Charakter dieses Genres erhalten, auch dank der einfühlsamen Musizierweise der Dresdner Philharmonie mit dezenten Bläsern und gut abgestimmter Pauke.
Ohne übliche Konzertpause folgte Mendelssohns „Reformations-Sinfonie“ mit dem bekannten Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ und dem viel zitierten, mehrmals anklingenden „Dresdner Amen“, das auch Richard Wagner im „Parsifal“ und Anton Bruckner sowie andere Komponisten verwendet haben und das immer noch oder wieder in den beiden Dresdener Hauptkirchen, der evangelischen Kreuzkirche und der ehemaligen katholischen Hofkirche, jetzt Kathedrale, gesungen wird. Musik verbindet die Konfessionen.
Da man in früheren Zeiten zwischen Reformation und Revolution eine enge Verbindung sah, konnte besagte Feier wegen politischer Ereignisse und damit die Aufführung der Sinfonie, in der Mendelssohn bereits in der Verbindung von sinfonischer Form, kontrapunktischer Technik und Elementen der Choralbearbeitung ganz eigene Akzente setzt, nicht stattfinden. Weitere Versuche einer Uraufführung scheiterten. Die Sinfonie wurde erst zwei Jahre später in Berlin in drei Konzerten aufgeführt, ohne nachhaltigen Erfolg, und danach von Mendelssohn selbst als „jugendliche Jugendarbeit“ abgetan, zunehmend negativer beurteilt und schließlich – aus welchen Gründen auch immer – ganz „in der Schublade“ versenkt. Da sie erst lange nach seinem Tod postum veröffentlicht wurde, trägt sie die Nr. 5 obwohl sie viel früher datiert ist (eigentlich seine 2. Sinfonie). Jetzt erfreut sie sich großer Beliebtheit schon wegen der zahlreichen einschmeichelnden Melodien und genialen Harmonien.
Unter Petrenkos Leitung begannen die Philharmoniker „zelebrierend“ die langsame Einleitung mit ihren geistlichen Bezügen und ließen dann die Musik für sich „sprechen“, zart und leidenschaftlich, mit dezenter Dynamik und an den Orchesterklang sich anpassender Pauke, vor allem aber klangschön und ganz dem Werk verhaftet. Das Konzert war ein schöner (vorläufiger) Abschluss der gerade erst begonnenen Konzertsaison, an den man sich gern erinnern wird, wenn die Opernhäuser und Konzertsäle wegen des neuerlichen Lockdowns schon wieder schließen müssen, obwohl doch gerade in diesen Spielstätten die perfekt ausgearbeiteten Hygienekonzepte akribisch eingehalten und überwacht werden und man sich an keinem Ort (außerhalb den eigenen vier Wänden) so sicher fühlen kann, wie gerade hier. Es ist sogar der seltene Fall eingetreten, dass niemand mehr im Konzert hustet!
Ingrid Gerk